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Zur debatte,
Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 01/2003
Europa im UmbruchReformbestrebungen und Osterweiterung Von Werner Weidenfeld - Januar 2003 Ohne Zweifel steckt ein beachtliches ökonomisches Potenzial mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf Westeuropa in der Erweiterung. Bereits jetzt verdankt Deutschland schon etwa ein halbes Prozent seines Wirtschaftswachstums dem erweiterten europäischen Markt. Gleichzeitig ist aber zu berücksichtigen, dass sich durch die Erweiterung das Wirtschaftsgefälle innerhalb der Europäischen Union massiv vergrößern wird. Europa wird deutlich heterogener. Die Vorboten der damit verbundenen Folgen lassen sich seit geraumer Zeit beobachten: etwa haben sich die Verteilungskämpfe um die Strukturfonds und das Agrarbudget der EU verschärft, und in den vergangenen Monaten wurde ausgiebig über das Reizthema der Arbeitnehmerwanderung diskutiert. Wie hoch das Ausmaß dieser Migrationsbewegungen sein wird, wird unter verschiedenen Prämissen sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Antwort der Politik darauf, relativ lange Übergangszeiten im Blick auf die Freizügigkeit zu wählen, erscheint in der Konsequenz nachvollziehbar. Mentale Prägeformen in Mittel- und OsteuropaAber die Osterweiterung ist nicht nur, und vielleicht noch nicht einmal in erster Linie, ein ökonomisches Thema. Man muss auch die kulturellen Komponenten sehen, denn als eine der Antworten auf diesen Wandel im Zeitraffer sind bestimmte historische Grundprofile zurückgekehrt. Bei dem Blick auf die großen Konstellationen wird unübersehbar, dass wir es mit einer Wiederkehr kulturell gewachsener historischer Räume zu tun haben. Vor allem in Mittel- und Osteuropa gewinnen geschichtlich abgesunkene mentale Prägeformen eine neue Gegenwart in Gestalt verschiedener Kulturregionen. Da ist das durch westliches Christentum und Habsburger Reich geprägte Ostmitteleuropa, das durch die osmanische Herrschaft geprägte Südosteuropa, das byzantinisch orientierte russische Reich; auch die alten Grenzen zwischen dem katholischen und dem orthodoxen Europa, zwischen dem osmanischen Reich und dem Habsburger Reich haben wieder an Relevanz gewonnen. Wenn man die verästelten Konflikte in Ostmitteleuropa begreifen will, hilft das Studium früherer Konflikte und Landkarten. Viele Konflikte in Südosteuropa lassen sich in ihren mentalen Prägeformen als eine Verlängerung jener Machtspiele verstehen, die als orientalische Frage des 19. Jahrhunderts und den Beginn des 20. Jahrhunderts durchziehen, also die Verfallgeschichte des Osmanischen Reiches, die damit religiös aufgeladenen Nationalitätenfragen, das damit verbundene Problem des nationalen Gleichgewichts, das Ringen von Habsburger Reich und Zarenreich um Einfluss und Herrschaft. Elemente der orientalischen Frage finden sich im Kaukasus sowie im Balkan, sie betreffen das Selbstverständnis der Türkei wie das Selbstverständnis Griechenlands, sie rufen die mazedonische Frage ebenso in Erinnerung wie die Albanienfrage - man braucht nur an die Brisanz der Auseinandersetzungen im Kosovo zu denken oder an die Probleme in Mazedonien und Montenegro. Eine Konsequenz aus dieser bewegten Geschichte besteht darin, dass in
Osteuropa die politischen Grenzziehungen und die ethnischen Siedlungsräume
weiter auseinander fallen als an anderen Orten. Daraus folgt, dass die
Landkarte in dieser Region von Minderheitenkonflikten geprägt ist:
Über ein Viertel der Bevölkerung in Osteuropa lebt in Ihrer
jeweiligen Gesellschaft als eine Minderheit. Das bedeutet, dass mit der
nächsten Erweiterung die Frage der Regelung von Minderheitenkonflikten
verstärkt auf die politische Agenda der Europäischen Union rücken
muss. Bereits heute liegen ja in Spanien, Belgien, Frankreich und Italien
derartige Konflikte von teilweise großer politischer Brisanz vor. Erweiterung mit StrategieDas konstitutionelle Grundproblem liegt auf der Hand: Das Muster, nach
dem die europäische Integration organisiert ist, stammt noch von
den Römischen Verträgen aus dem Jahr 1957. Die Entscheidungsprozesse
und die Verteilung der Zuständigkeiten waren auf eine Gemeinschaft
von sechs Staaten zugeschnitten. Dieses frühe Europa war eher ein
politisch-kulturelles Ornament für die einzelstaatliche Politik.
In der Folgezeit hat der Magnetismus dieser Initiative jedoch immer mehr
Mitglieder und immer mehr Themen angezogen - eine Erweiterung ohne nachvollziehbare
Strategie. Im Ergebnis ist ein Modell sui generis entstanden, das einer
durchgängigen Funktionslogik entbehrt: Hier sind ein paar Quadratzentimeter
angedockt, dort sind ein paar Millimeter hinzugefügt worden. Doch
obwohl der Integrationsprozess nie einer strategisch und systematisch
angelegten Blaupause folgte, ist aus ihm ein Kernstück der politischen
Machtarchitektur Europas erwachsen. Transparenz gewährleistenDie Europäische Union ist intransparent. Durch die Logik eines dschungelhaften Wildwuchses kann heute kaum mehr jemand nachvollziehen, in welchem Vertrag was geregelt ist und wer für welche Aufgaben verantwortlich ist. Der erste Schritt, um mehr Transparenz zu schaffen, besteht in einer Vertragsvereinfachung. Es ist angedacht, eine Art Verfassungsvertrag mit allen elementaren Sachverhalten zu bilden und den übrigen Rechtsbestand wie die Durchführungsbestimmungen in einer zweiten Kategorie zu bündeln. Die häufig geäußerte Befürchtung, Europa überfordere sich damit, ist überholt. Am Centrum für angewandte Politikforschung in München haben wir bereits vor zwei Jahren durch eine systematische Neuordnung und Gliederung des zentralen Rechtsbestands der europäischen Integration gezeigt, dass gültige Verträge nur in die Form eines Verfassungstextes gebracht werden müssen. Gedruckt ist dies dünner als das Grundgesetz und komprimiert, was bereits geltendes Recht in Europa ist. Dies wäre ein wesentlicher Schritt zur Transparenz, der eine ganz andere Form der Durchschaubarkeit bietet, wie Europa organisiert ist. Durch eine Bündelung der bereits vorhandenen Bestandteile einer Verfassung werden aber auch die Lücken im Vertrag deutlich. Fehlende Elemente für eine solche Verfassung sind insbesondere ein Grundrechtskatalog und eine klare Kompetenzbeschreibung. Die Grundrechtscharta wurde bereits 2000 unter der Leitung von Roman Herzog in einem ersten, vorbildhaften Konvent entwickelt und muss nun in die Verträge integriert werden. Damit bleibt die Erarbeitung ein kohärenten Kompetenzordnung, die aufzeigt, wer wofür zuständig ist, die vordringlichste Aufgabe des Konvents. Effizienz stärkenDie Entscheidungen der Europäischen Union sind noch zu ineffizient. Das zweite Schlüsselthema der konstitutionellen Ausgestaltung ist daher die Verbesserung der Entscheidungsstrukturen. Die Europäische Union arbeitet derzeit mit rund zwei Dutzend Verfahren und einer wenig konsistenten institutionellen Zuordnung. Eine Verbindung der Kompetenzordnung mit den Instrumenten und Verfahren könnte entscheidend zur Effizienzsteigerung beitragen. Die Kompetenzen lassen sich in einige wenige Kategorien ordnen und diesen Kategorien lassen sich wiederum Verfahren zuweisen. Bereits die Neuordnung des Status quo kann daher eine neue Qualität von Transparenz und Effizienz erreichen, ohne alles geradezu revolutionär auf den Kopf zu stellen. Die logische Konsequenz wäre aber, die Gemeinschaftsbereiche auf ein einfaches Gesetzgebungsverfahren zurückzuführen. Damit könnte eine Art Zwei-Kammer-System, das heute in Ansätzen bereits mit den zwei Gesetzgebungsorangen, dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat existiert, eingeführt werden. Eine Parlamentarisierung der Ratsarbeit würde zu einem effizienten und transparenten Gesetzgebungssystem beitragen. Ein weiter gehender Schritt wäre die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament. Doch kaum hatte der Konvent darüber nachgedacht, haben der französische Staatspräsident und der britische Premierminister den Vorschlag eingebracht, doch besser eine Präsidenten des Europäischen Rates aus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs zu benennen. An der aktuellen Debatte wird deutlich, dass die Europapolitiker spüren, dass es nun erneut um die Schlüsselfragen zur Ausgestaltung der Integration geht. Es streiten hier zwei konstitutionelle Modelle miteinander: Während die einen den eigentlichen Entscheidungsstrang über den Ministerrat organisieren wollen, setzen die anderen auf die Sicherung und Stärkung der supranationalen Elemente der Integration. Der Ausgang dieses Richtungskampfes wird das Wesen der künftigen Europäischen Union nachhaltig prägen. Akzeptanz erhöhenDrittens hat die Europäische Union zunehmend Akzeptanzprobleme. Untersuchungen belegen, dass die Zustimmung zur europäischen Integration seit Jahren tendenziell sinkt. Europa droht von innen zu erodieren. Damit stellt sich die Frage nach der Legitimation der europäischen Integration. Das bedeutet, die Kompetenzen sind zu klären, klare Verantwortlichkeiten zu schaffen. Es geht im Grunde genommen um nicht mehr und nicht weniger als die Schaffung einer europäischen Demokratie. Eine solche Abklärung der Kompetenzen und Zuständigkeiten auch unter demokratischem Gesichtspunkt ist überfällig, weil die Verteilungskonflikte - ob im Zuge der Erweiterung, der Agrarmarktreform, der weiteren Ausgestaltung der Finanzverfassung oder auch der Wettbewerbskontrolle - sich in den nächsten Jahren intensivieren werden. Als vor einigen Jahren die Kommission die Subventionierung des VW-Werkes in Dresden untersagte, hat der sächsische Ministerpräsident sofort die Legitimationsfrage aufgeworfen: Darf die Europäische Kommission das überhaupt, obwohl es doch in der Konsequenz um den Erhalt oder Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen geht? Diese Art von Legitimationsfragen werden sich mit jedem weiteren direkten Eingriff der Europa-Politik in unsere alltäglichen Lebenssachverhalte quantitativ und qualitativ dramatisch verstärken. Denn letztlich wird die Europäische Union an ihrer konkreten Politik und nicht an den dahinter liegenden Entscheidungsstrukturen gemessen. Die Bürger haben gewisse Erwartungen und Befürchtungen, denen die Union und ihre Mitgliedsstaaten gerecht werden müssen. Die Klärung der Legitimations- und Akzeptanzfrage ist auch deshalb
entscheidend, weil der entstehende Stabilitätsraum Europa ein beachtliches
Potenzial von weltpolitischer Bedeutung hat. Am deutlichsten wird dies
im Kontext der Erweiterung zu einem Europa der 28. Die Bevölkerung
der Europäischen Union wird wohl in wenigen Jahren von heute 374
Millionen auf bis zu 539 Millionen anwachsen und damit etwa doppelt so
groß sein wie die der USA. Die Fläche, auf die sich diese Europäische
Union dann erstreckt, würde etwas zwei Drittel der Fläche der
USA betragen. Das Bruttosozialprodukt wird circa 15 Prozent über
dem der USA liegen. Die Europäische Union wird einen Anteil von etwa
35 Prozent an der Weltproduktion haben, die USA 27 Prozent. Etwa 30 Prozent
des Welthandels werden schon heute von dieser europäischen Region
betrieben, von den USA 18 Prozent. Auch andere Kategorien, mit denen eine
Weltmacht gemessen wird, zum Beispiel den Anteil an Abiturienten, Hochschulabsolventen,
ausgebildeten Facharbeitern deuten in dieselbe Richtung: Vom Potenzial
her ist dieses Europa eine Weltmacht im Werden. Alternative EntwicklungsszenarienUm die strategisch entscheidenden Weichenstellungen für ein handlungsfähiges Europa vorzunehmen und durchsetzen zu können, sollten die möglichen Entwicklungsalternativen der nächsten Jahre bedacht werden. Ein Blick in die Geschichte Europas zeigt, dass es im Grunde genommen naiv wäre, anzunehmen, die Zukunft dieser Integration liege nur darin, eine Art pragmatische Verlängerung des bisherigen Status quo zu vollziehen; denn es hat stets in relativ kurzen Abständen tief greifende Zäsuren, Diskontinuitäten und Brüche gegeben. Warum sollte unsere Zeit die erste sein, die ein pragmatisches muddling through betreiben kann?
Die Betrachtung dieser alternativen Szenarien und der Tragweite des radikalen
Wandels der Konstellationen in Europa verdeutlicht die Notwendigkeit einer
umfassenden Strategiedebatte. Die Erweiterung nach der Formel, 15 plus
6 plus 1 plus x' wird tief greifende Veränderungen in Europas Gesicht
mit sich bringen. Dieser politische Vorgang wird erstmals in der Geschichte
der Integration ohne Unterfütterung durch eine politisch-kulturelle
Selbstwahrnehmung der daran Beteiligten als "wir Europäer"
vollzogen. Interessanterweise verändert sich auch die Kernbegründung
der Europapolitik, warum sich die Integration fortsetzen muss, erheblich.
Sie konzentriert sich nicht mehr auf das alte Abendland oder den unvollendeten
Bundesstaat eines Walter Hallstein. Seit dem Beschluss zum Europa der
28 liegt das Hauptlegitimationsargument für Europa in seiner Funktion
als großer Stabilitätsraum. |