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Neue
Zürcher Zeitung, 17.03.2004
Saudiarabien in einer OrientierungskriseVerunsicherung und Ratlosigkeit in der Führungsschicht Saudiarabien ist nach dem 11. September 2001 in eine Orientierungskrise geraten. Die Amerikaner, bisher geopolitischer Fixpunkt, gingen auf Distanz. Sie sind dabei, ihre Truppen aus dem Wüstenland abzuziehen. Der Autor hat den Eindruck, Europäer hätten Chancen, in die Lücke zu springen, äussert jedoch Zweifel, dass sie es tun werden. Wer in diesen Tagen Gespräche mit der politischen Führungsschicht in Saudiarabien führt, dem fallen vor allem Verunsicherung und Ratlosigkeit auf. Aussenpolitisch ist die Szene vom Verhältnis zu den USA bestimmt. Die enge Kooperation zwischen Riad und Washington war über Jahrzehnte der eigentliche Stabilitätsanker für Saudiarabien. Das geostrategische Interesse der USA, nicht nur im Blick auf die Ölreserven, auch als reale und potenzielle Basisstation für Aktionen in Richtung Irak, Iran und Syrien, liess die Beziehungen zwischen den USA und Saudiarabien über jeden Zweifel erhaben sein. Diese Gewissheit ist dahin. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 ging Washington spürbar auf Distanz. Zu deutlich erschienen die Verwebungen zwischen den Netzen des Terrorismus und der saudischen Gesellschaft - personell und finanziell. Demokratische BedrohungDieser Vorbehalt Amerikas traf die saudische Führungsschicht unvorbereitet. Ihr auf Amerika fixiertes Stabilitätsdenken hielt für dieses neue Phänomen keinen Passepartout bereit. Der Kern des machtabsichernden Denkens der saudischen Führung war getroffen. Man verdrängte dann die indirekte Drohung der Amerikaner, nach einem Sieg im Irak offensiv die Neuordnung der gesamten Region vorzunehmen: Iran, Syrien - und wohl auch Saudiarabien. Aber in diesen Tagen wird Riad mit einer weicheren Fassung dieser harten Drohung konfrontiert. Washington verfolgt mit dem Konzept des "Greater Middle East" die demokratische Transformation des arabischen Raumes. Dies aber würde die Machtarchitektur Saudiarabiens im Kern treffen. Überraschtes Unverständnis ist die Reaktion. Man versteht die Motive, die Hintergründe, die Denkstrukturen der Amerikaner nicht. Plötzlich keimt die Erkenntnis auf, dass der Amerikaner doch für einen Araber ein unbekanntes Wesen sei. Kommt noch hinzu, dass für jedermann die Fragilität der ganzen Region offenkundig
ist. Welche Ordnung wird im Irak langfristig wirksam sein? Der Kampf der Ethnien und
der islamischen Konfession dominiert die Szene. Wie lange werden sich die Reformer in
Iran dem Diktat des Ayathollahs unterwerfen? Die iranischen Reformer sind weit stärker,
als es die manipulierte Wahl zum Ausdruck bringt. Der Kampf um offenen Pluralismus steht
bevor. Und da wäre noch Syrien, der ungelöste Palästinakonflikt, Ägypten
- und mittendrin in dieser grossen Krisenregion Saudiarabien. Selbstkritisch sieht die
Führungsschicht, wie begrenzt die Aufnahmekapazität der politischen Kultur
Saudiarabiens ist. Es ist ein vornehmlich nach innen gerichteter Blick - trotz allen
Ölmilliarden und trotz vielen Investitionen im Ausland. Kein öffentliches LebenDie in Saudiarabien vorherrschende islamische Variante des Wahhabismus schreibt vor,
dass nichts von Gott ablenken soll. Entsprechend fehlt praktisch jedes öffentliche
Leben; Religionspolizei wacht über die präzise Einhaltung der Gebetszeiten,
in denen auch jedes Geschäftsleben untersagt ist; die strikte Trennung von Männern
und Frauen und die praktische Konzentration der Frau auf das innerhäusliche Dasein
ergänzen das Bild religiös begründeter Kargheit. Im Ergebnis stärkt
das zwei Schlüsselelemente der Tradition: Stamm und Familie. Das sind die Orte
eines erfüllten Lebens. Mit westlichen Augen betrachtet, ergibt sich daraus eine
Gesellschaft der kompletten Langeweile. Zugleich ist zu beobachten, mit welcher Energie
Wege gesucht werden, den strengen Auflagen von Tradition und Islam zu entgehen: Alkohol,
Frauenbekanntschaften, Vergnügungen aller Art, Kino - und wenn man dazu nach Dubai
oder Kairo oder gar in den Westen fliegen muss. Die Doppelbödigkeit ist mit Händen
greifbar. Und so stellt sich die Frage, wie lange sich diese angesichts der hohen Geburtenrate
extrem junge Gesellschaft durch Tradition und Religion so formiert fixieren lässt.
Die politische Führung weiss keine Antwort. Die internen Konflikte nehmen zu. Die Europäer als Hoffnung?In dieser kulturell, innenpolitisch und aussenpolitisch verursachten Orientierungskrise versucht Saudiarabien die Europäer ins Spiel zu bringen. Vielleicht könnten sie die gewachsene Distanz zu Amerika kompensieren. In dieser heiklen Situation ist jedoch einmal mehr zu spüren, welch ein strategisches Defizit Europa aufweist. Es ist nicht zu sehen, dass auf der arabischen Halbinsel die Europäer ihre weltpolitischen Chancen begreifen würden. Die Erweiterung lässt zwar die Europäische Union näher an den arabischen Raum heranrücken. Man wird gewissermassen Nachbarn - ohne daraus handfeste Schlüsse zu ziehen. Von einem strategischen Dialog zwischen der Europäischen Union und den Golfstaaten kann keine Rede sein. Seelenruhig lassen die Europäer die saudiarabische Zeitbombe einfach weiterticken. |