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WechselWirkung,
Mai/Juni 2003
Ein neuer europäischer GrundkonsensVon Roman Maruhn Der Entwurf für eine Verfassung wird gerade vom Europäischen Konvent fertig gestellt. Bleibt in der Öffentlichkeit Sinn und Ziel dieses Vorhabens weit gehend dunkel, lässt sich feststellen, dass ein Grundgesetz für die Europäische Union keine Minute zu früh kommt. Die Verankerung der europäischen Integration in einem konstituierenden Rechtsakt ist notwendig für die Staatlichkeit der EU. Nur im politischen Gemeinwesen Europa können die Mitgliedsländer sowohl gegenüber der Außenwelt als auch untereinander bestehen. Die Europäische Union von heute ist nur schwer mit ihren Anfängen
nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. In der historischen Perspektive mögen diese Integrationsprojekte romantisch erscheinen. Doch trotz damaliger Europabegeisterung sind die ursprünglich drei Europäischen Gemeinschaften das Ergebnis strategischen Denkens kühler Realisten gewesen. Auch die ambitionierten und gescheiterten Initiativen wie die Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Europäischen Politischen Gemeinschaft 1952 haben ein europäisches Gemeinwesens irgendwo zwischen Konföderation und supranationalem Überstaat zum Ziel. Heute, 50 Jahre später, erleben wir ein europapolitisches Déjà-vu: Bereits 1953 wird ein 117 Artikel umfassender Verfassungsentwurf erarbeitet, der allerdings an den Regierungen der sechs Gründerstaaten scheitert. Man entscheidet sich statt dessen für einen funktionalistischen Ansatz und setzt die europäische Integration sektoral, in ausgewählten Politikbereichen, fort. Über die Jahre wird das Modell der europäischen Zusammenarbeit
zur Erfolgsgeschichte. Mit der Öffnung des Agrarmarkts, dem Abbau
der Zölle für Produkte der Landwirtschaft, entsteht ein gemeinsamer
Markt, der zum wirtschaftlichen Wohlstand beiträgt und die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft für andere Länder interessant macht.
Mit der ersten Erweiterung, dem Beitritt von Großbritannien, Dänemark
und Irland 1973, setzt sich die Europäische Gemeinschaft (EG) und
ihr Integrationsmodell nicht nur in Europa, sondern weltweit durch. Staats- und Regierungschefs bestimmen ab 1974 die Grundlinien der EG-Politik
im Europäischen Rat. 1979 werden die Mitglieder des Europäischen
Parlaments erstmals direkt gewählt. 1981 treten Griechenland und
1986 Spanien und Portugal der EG bei - zum ersten Mal kann die EG für
sich in Anspruch nehmen, aktiv die Demokratisierung und Stabilisierung
ehemaliger Diktaturen zu unterstützen. Der Fall der Berliner Mauer wird mit dem Beitritt der fünf neuen
Länder zur Bundesrepublik Deutschland die inoffizielle erste Osterweiterung
der EG. Die Westeuropäer müssen aber auch nach Antworten für
den Wandel in Mittel- und Osteuropa suchen. Der Beitrittswunsch der neuen
Demokratien wird zur größten Herausforderung. 1995 stoßen
auch in Folge des Ende des Kalten Kriegs Österreich, Finnland und
Schweden zur Europäischen Union (EU) hinzu. In den neunziger Jahren gelingt es der EU trotz der erheblichen Herausforderungen in Europa, wie dem Ende der Sowjetunion, der Bildung von neuen Staaten in der Nachbarschaft der Union, den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, ein recht hohes Tempo bei der Europäisierung des Alltagslebens der Bürger zu erreichen: Der weit gehend realisierte Binnenmarkt, der auch in Zukunft ein evolutionärer Prozess bleiben wird, bekommt zur praktischen Umsetzung die Gemeinschaftswährung Euro zur Seite gestellt. Allerdings beteiligen sich nicht alle Mitgliedstaaten an der Wirtschafts- und Währungsunion. Ähnlich verläuft die Entwicklung bei dem ebenfalls den Gemeinsamen Markt ergänzendem Schengener Abkommen, das die Grenzkontrollen abschafft. Zum Leitmotiv der Europäischen Union entwickelt sich langsam die differenzierte Integration: Neue und tiefer in die nationale Souveränität hinein reichende Politikfelder werden nicht mehr von allen, aber von der Mehrheit der Mitgliedstaaten zusammen organisiert. Dieser Trend wird sich in der Zukunft noch weiter verstärken: Die zehn Staaten, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten, werden eine EU vorfinden, die sich massiv von der EG unterscheidet, der sie sich zum Zeitpunkt ihrer wieder gewonnenen Souveränität nach der Auflösung der Sowjetunion anschließen wollten. Die Beitrittsverhandlungen haben die Länder zwar gezwungen, politische wie wirtschaftliche Kriterien zu erfüllen, dennoch wird aus Organisationsgründen wie aus der Zunahme von unterschiedlichen Interessenlagen ein Europa der 25 Mitgliedstaaten anders funktionieren müssen als das heutige Europa. Es wird unvermeidbar sein, dass nicht nur eine Mehrheit, sondern auch eine Minderheit von Mitgliedstaaten Politik gemeinsam organisieren kann. Wie das geschieht, ob im Rahmen der EU oder außerhalb, das ist letztendlich die Schicksalsfrage, vor der Europa momentan steht. Das Jahr 2003 steht unter dem Primat der Politik. Die veränderte Weltpolitik, die bevorstehende Erweiterung und die Strukturkrisen der großen Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich und Italien werden mit über das Schicksal Europas entscheiden. Zudem ist die Zeit der Selbstfindung für Europa abgelaufen. Tat sich mit dem Rat von Laeken, der quasi eine Checkliste für die Zukunft der EU vorlegte, ein Zeitfenster für deren Beantwortung auf, so beginnt dieses sich jetzt zu schließen. Stärker als erwartet haben die neuen Mitgliedstaaten zur eigenen Rolle gefunden und diese in den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg auch gespielt. In der sensiblen Phase der Entscheidung, welche Finalität, welche Gestalt Europa in der Zukunft haben wird, sind die Mitgliedsländer und das System EU starkem externen Druck ausgesetzt. Es geht um nichts weniger, als Europa wetterfest zu machen, nach innen wie nach außen. Die Allianzen- und Koalitionenbildung innerhalb wie außerhalb Europas, mit europäischen wie nicht-europäischen Partnern mag als Indiz für eine Zukunft gelten, in der globale Partnerschaften der Vergangenheit angehören und ein Wettbewerb zwischen rivalisierenden regionalen Blöcken einsetzt. Diesem Wettbewerb kann Europa in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht standhalten. Bisher ist die EU in der Staatenwelt zumeist freundlich empfangen worden. In einem globalen Systemwettbewerb allerdings, der das Gewicht der Bevölkerung, die Fähigkeit zur internationalen Partnerschaftsbildung, den Wettkampf um regionalen Einfluss, den Kampf um Ressourcen und das Messen militärischer Stärke als Disziplinen haben wird, würde die EU zu zerbrechen drohen. Die Aufgabenstellung ist bekannt. Trotzdem denken die Europäer noch nicht konsequent genug im großen Maßstab. Auch in Zukunft wird das Grundziel europäischer Integration lauten, Frieden zu garantieren. Das kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die EU auch äußere Stärke besitzt, Europa auch verteidigen kann. Und eine solche kritische Masse ist nur zu erreichen, wenn ein neuer europäischer Grundkonsens gefunden wird. Dieser Grundkonsens muss mindestens so ambitioniert sein, wie derjenige, der 1945 ausgerufen wurde: Nie wieder Krieg in Europa! Nach Diktaturen, zwei Weltkriegen innerhalb von 30 Jahren und dem größten Verbrechen der Menschheit, galt diese Idee lange als Vision oder sogar Illusion. Mit demselben Anspruch ist nun die Idee des Großen Europas zu formulieren: Eine politische Union, die basierend auf einem europäischen Wertemodell den Sprung von der wirtschaftlichen Zweckgemeinschaft zu einer europäischen res publica schafft. Dieses Europa kann dann Versprechen erfüllen, die die alten Nationalstaaten heute nicht mehr halten können. |