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Europäische
Zeitung, Januar 2003
Präsidentschaftswahlen: Litauen zeigt sich risikofreudigVon Olena Syromyatnikova und Wim van Meurs Der Schlussspurt von Rolandas Paksas war überaus erfolgreich: Am 5. Januar schenkten ihm knapp 55 % der litauischen Wähler ihre Stimme und machten ihn damit zum neuen Präsidenten der größten baltischen Republik. Der ehemalige Kunstflieger liebt das Risiko und wechselnde Kulissen: Nach seiner Fliegerkarriere in der sowjetischen Kunstflugstaffel wurde der gelernte Bauingenieur Unternehmer, bevor er 1997 in die Politik ging. Seitdem war er Bürgermeister von Vilnius und kurze Zeit sogar zweimal Premierminister einer zentrumsrechten Koalition. Unterstützt von einer eigenen "Liberaldemokratischen Partei" riskierte er im letzten Jahr den Höhenflug, der ihm jetzt das höchste Amt im Staate brachte. Die bunte litauische Demokratie kennt nicht nur 26 politische Parteien, bei der ersten Wahlrunde am 22. Dezember 2002 traten auch 17 Präsidentschaftsanwärter an. Das Ergebnis - gut 35 % für den amtierenden Präsidenten Valdas Adamkus und nur knapp 20 % für Paksas - brachte ihn zwar als Herausforderer in die Stichwahl, aber Politanalysen und Meinungsforscher gaben dem 46-jährigen kaum eine Chance. Der 30 Jahre ältere Adamkus, der als Exil-Litauer aus den USA 1998 ebenso überraschend den ersten Präsidenten (und ehemaligen KP-Generalsekretär) Algirdas Brazauskas geschlagen hatte, verwies in seiner Kampagne zurecht auf eine erfolggekrönte Amtszeit: Nicht nur steht NATO- und EU-Mitgliedschaft nichts mehr im Wege, Litauen konnte im letzten Jahr mit 6 % Steigerung beim Bruttoinlandsprodukt, 14 % bei den Auslandsinvestitionen und 21 % beim Exportvolumen auch erstaunliche Wirtschaftsdaten vorzeigen. Vilnius kennt anders als die Nachbarn in Riga und Tallinn weder Minderheitenprobleme noch Euroskeptizismus: die Integration der russischen Minderheit ist kaum Thema und 64 % der Litauen befürworten den EU-Beitritt. Treffsicher mobilisierte Paksas jedoch mit einer populistischen Kampagne die Ängste und den Unmut der Bürger. Sein Slogan "Wählen für Veränderung" war ebenso schlicht wie erfolgreich. Hieraus lässt sich aber kaum auf eine besondere Risikofreudigkeit der Litauer schließen, die nach dem Nationalhelden Vytautas Landsbergis 1993 den Exkommunisten Brazauskas zum Präsidenten wählten, um ihn 1998 durch den liberalen Adamkus zu ersetzen, diesem aber alsbald den gleichen Exkommunisten als Premierminister zur Seite zu stellen. Grund des unbeständigen Wahlverhaltens sind die Lasten der wirtschaftlichen Transformation, die nicht nur Gewinner, sondern auch viele Verlierer produziert, und die Doppelrolle der EU. Einerseits wird der Beitritt als Allheilmittel für den schmerzhaften Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft angesehen, andererseits sträuben sich viele gegen die Abgabe der erst kürzlich erkämpften Souveränität an einem neuen "Hegemon". Während Litauen nicht in dem Maße mit den Erblasten einer obsoleten sowjetischen Schwerindustrie kämpft wie seine baltischen Nachbarn, ist das Agrarproblem hier wesentlich größer: 20 % der Erwerbstätigen verdienen ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, die aber nur 7 % des Bruttoinlandsproduktes leistet. Den Bauern versprach Paksas einen besseren "Deal" mit Brüssel in Sachen Agrarbeihilfe und eine spürbare Steigerung des Lebensstandards. Den Verlierern der Transformation (nicht zuletzt die 12 % Arbeitslosen) stellte er ein Durchgreifen gegen Korruption im Staatsapparat und Wirtschaftskriminalität in Aussicht. Den Litauern, die das sowjetische Kernkraftwerk von Ignalina - einst Mitauslöser der Nationalbewegung gegen die UdSSR - nicht nur als wichtigen Devisenbeschaffer mittels Energieexport, sondern auch als nationales Symbol des Widerstandes gegen die Brüsseler Herrschsucht sehen, versprach er mehr EU-Unterstützung für die Ersetzung des Kraftwerks. Außerdem wähnten sich Adamkus und seine Anhänger bei
der Stichwahl wohl bereits im sicheren Hafen: Die Wahlbeteiligung sank
von 54 % in der ersten Runde auf 52 % in der zweiten. Das Stimmungsbild
ist aber uneinheitlich: Der konservative Adamkus erhielt im zweiten Wahlgang
die Stimmen der liberalen und linken Wähler, während Paksas
die konservative Dörfer und - ganz entscheidend - die jugendlichen
Erstwähler auf sich vereinen konnte. Das Ergebnis ist eine politische
Überraschung, aber wohl kaum ein grundlegender Kurswechsel. Innenpolitisch
deutet sich ein Tauziehen an zwischen dem neuen konservativen Präsidenten,
der außer bei der Regierungsbildung kaum ins politische Tagesgeschäft
eingreifen kann, und dem selbstbewussten linken Kabinettchef. Paksas Idee
einer Regierungsumbildung wurde von Brazauskas postwendend und unmissverständlich
zurückgewiesen. |