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Europäische Zeitung,
November 2002
Bewährungsproben auf dem Weg zur VerfassungDas ist gerade noch einmal gut gegangen! 63 Prozent Zustimmung beim zweiten irischen Referendum zum Vertrag von Nizza sind deutlich mehr als erwartet. Doch hätte es auch einen dramatischen Fehlschlag geben können. Bei niedriger Wahlbeteiligung hätte eine halbe Million Stimmen ausgereicht, um die Erweiterung wie die Vertiefung der EU in Frage zu stellen. Die Erweiterung wäre entweder erheblich verzögert worden oder ein Beitritt nur mit rechtlichen Kniffen zu verwirklichen gewesen. Zur Debatte stand etwa, dass wichtige Bestandteile von Nizza direkt in die Beitrittsverträge übernommen und durch diesen Umweg Gültigkeit erhalten hätten. Denkbar wäre auch eine Art Mini-Regierungskonferenz gewesen, die entsprechende Entscheidungen fasst und diese parallel zu den Beitrittsverträgen ratifizieren lässt. Das Signal an die eigenen Bürger wie die Beitrittsstaaten wäre in jedem Fall fatal gewesen. Die Zukunft des europäischen Integrationsweges lag also in der Hand der politischen Stimmungslage von weniger als einem Viertel der Bürger eines Mitgliedstaats. Das kann einerseits nicht das Verfahren sein, dem künftige Vertragsänderungen und Erweiterungsschritte unterliegen dürfen. Andererseits sollten die Staats- und Regierungschefs die Botschaft, die hinter dem "Nein" des ersten Referendums verborgen lag, ernst nehmen. Denn neben einigen spezifisch irischen Problemen war auch die Kritik am Zustandekommen und den wenig überzeugenden Kompromissformeln des Vertrags groß. Welches Europa aus Nizza erwachsen könnte, blieb im Geflecht juristischer Feinjustierungen verborgen. Der EU-Konvent hat nun die einmalige Chance in einem offenen Prozess eine verständlichere Konzeption als das Europa à la Nizza zu entwickeln. Was bisher dazu in einer "Phase des Zuhörens" in abstrakter Form debattiert wurde, nimmt nun langsam Gestalt an. Mittlerweile liegen dem Konvent eine ganze Reihe von Verfassungsvorschlägen unterschiedlicher nationaler und parteipolitischer Provenienz vor. Erste Entwürfe hatten bereits nach der Sommerpause Elmar Brok und Andrew Duff eingereicht. Brok favorisiert in einem sehr detaillierten Text mit 200 Artikeln ein föderales Zweikammersystem mit einer starken Kommission, das aber in dieser Form wohl kaum von allen Mitgliedstaaten akzeptiert wird. Auch der Beitrag des liberalen Duff enthält trotz seiner nur 19 Artikel sehr ambitionierte institutionelle und verteidigungspolitische Reformüberlegungen. Er hatte aber auf Grund der nur vage skizzierten Kompetenzordnung von vornherein geringe Realisierungschancen. Seither wurden eine ganze Reihe von Vorschlägen unter anderem aus Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien, sowie von Seiten der großen Parteifamilien vorgelegt. Außer den "Jungen Grünen" haben die Parteien aber bisher auf konkrete Textvorschläge verzichtet und sich auf inhaltliche Leitlinien beschränkt. Der wesentliche Unterschied all dieser Entwürfe liegt letztlich im zugrunde liegenden Leitbild: Während die einen - wie beispielsweise der Europaabgeordnete Jo Leinen - ein ausgeprägt föderales, nahezu bundesstaatliches Europa mit einem starken Parlament und einer regierungsähnlichen Kommission entwerfen, schlagen die anderen Strukturen vor, in denen den Mitgliedstaaten über Rat und Europäischen Rat die zentrale Rolle verbleibt. Ganz in letzterem Sinne hat etwa der britische Europaminister Peter Hain kürzlich seinen anti-föderalen Gegenentwurf begründet: "Wir wollen eine Verfassung für eine Union souveräner Staaten, keine Blaupause für einen föderalen Superstaat". Trotz aller Unterschiede in Umfang und Ausrichtung der bisher vorgelegten Vorschläge sind aber auch übereinstimmende Linien zu erkennen. Gemeinsam ist den meisten Entwürfen, dass sie letztlich eine Auflösung der Säulenstruktur anstreben, die EU mit eigener Rechtspersönlichkeit ausstatten, die Grundrechtscharta als rechtlich verbindlichen Bestandteil verankern und das Prinzip festschreiben wollen, dass die Mitgliedstaaten für alle Sachfragen zuständig bleiben, die nicht explizit im Verfassungstext geregelt sind. Zudem soll ein Konvent für künftige Vertragsreformen zuständig sein. In Anbetracht dieser wachsenden Zahl potentieller Verfassungsväter hat der Präsident des Konvents, Valérie Giscard d'Estaing, schließlich auf der Plenarsitzung am 28./29. Oktober 2002 einen eigenen Entwurf vorlegt. Dieser hat erstmals die zu erwartende Grundstruktur des endgültigen Verfassungsvorschlags des Konvents aufgezeigt, indem er die Ergebnisse der bisherigen Konventsarbeit als "Wegmarke für ein neues Europa" zusammenführt. Dieser "Verfassungsvertrag" setzt sich aus einer Präambel und drei Teilen zusammen. Im ersten Teil werden in zehn Titeln mit insgesamt 46 Artikeln die Grundbestimmungen festgelegt:
Im zweiten und umfangreichsten Teil sollen die detaillierten Bestimmungen über die tatsächlichen Rechte und Pflichten der EU in den ihr zugewiesenen Aufgabenbereichen aus dem bisherigen EU-Vertrag und dem EG-Vertrag zusammengeführt werden. Der dritte Teil würde schließlich einige Schluss- und Übergangsvorschriften enthalten. Im wesentlichen bestünde der Verfassungsvertrag aber weiterhin aus den rund 400 Artikeln des EU- und EG-Vertrages, von denen gerade im zweiten Teil sicher viele unverändert oder leicht überarbeitet übernommen werden könnten, manche aber auch neu formuliert und ergänzt werden müssten. Die Vorlage dieses Entwurfs ist auf breite Zustimmung gestoßen. Einerseits sind bereits wichtige Bestandteile aus den bisherigen Debatten inkorporiert worden. Sowohl die Bildung klarer Kompetenzkategorien und die Zuordnung der einzelnen Politikfelder dazu, als auch die Stärkung und Kontrolle der Prinzipien der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz im Gesetzgebungsprozess sollen Bestandteil der künftigen Verfassungsordnung werden. Andererseits lässt der Entwurf genügend Spielraum, um im Plenum oder in Arbeitsgruppen eine Reihe von strittigen Fragen zu debattieren. Es wird künftig wesentlich leichter sein, die einzelnen Reformvorschläge konkret anhand ihrer Kompatibilität mit der vorliegenden Gesamtstruktur einzuschätzen, sie anzupassen und bei Konsens in den Entwurf zu integrieren. Somit verbleibt etwas mehr als ein halbes Jahr, um die Verfassung schrittweise und gezielt mit Inhalten zu füllen. Das ist sicherlich die effektivste und nachvollziehbarste Methode, um einen Konsens im Konvent zu erreichen. Insgesamt war die Vorlage eines stimmigen und breit akzeptierten Entwurfs also ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Verfasstheit für Europa. Eine Erfolgsgarantie ist dies gleichwohl nicht. Denn die großen Bewährungsproben des Konvents werden erst noch kommen, wenn die zentralen Macht-, Kompetenz- und Finanzierungsfragen auf der Tagesordnung stehen:
Die Palette der potenziellen Bruchstellen ist also groß, bevor der Konvent einen Verfassungsentwurf aus einem Guss präsentieren kann. Die Europapolitik ist gefordert, diese Richtungsentscheidungen beim Namen zu nennen und den Bürgern die Alternativen aufzuzeigen. Am Ende wird sich herausstellen, dass vielen Bürgern wohl ein föderal ausbalanciertes Europa lieber wäre, das über klar definierte und begrenzte Rechte verfügt, die es dann aber auch effizient nutzen kann, als ein auf ständigen Kompromissen beruhender Interessenverbund, der sich dennoch sukzessive und scheinbar unaufhaltsam weiter in ihrem Leben ausbreitet. |