Allgemeine Zeitung Mainz, 14. September 2002
Klare Mehrheit nicht in Sicht?
Von Karl-Rudolf Korte
Gut eine Woche vor der Bundestagswahl hat die SPD in den Umfragen klar
aufgeholt. Die CDU/CSU stagniert oder verliert leicht je nach Umfrage.
Im letzten ZDF-Politbarometer erreicht die SPD 40 Prozent der Stimmen.
Um zwei Prozent sind somit die Sozialdemokraten in der Wählergunst
innerhalb einer Woche gestiegen. Damit kann die SPD ihren Vorsprung jetzt
auf drei Prozent vor dem Unionslager ausbauen. Andere führende Meinungsforschungsinstitute
bestätigen diesen Aufhol- und Überholtrend der SPD. Überraschenderweise
diagnostizierte das Institut für Demoskopie Allensbach in den letzten
Tagen einen Gleichstand beider großen Volksparteien. Über viele
Wochen hatte Allensbach einen deutlichen und stabilen Vorsprung der Union-
abweichend von anderen Instituten - ermittelt. Wenige Tage vor der Wahl
bestätigen nunmehr alle Prognosen die Offensive der SPD.
Doch was besagt das? Innerhalb kurzer Zeit kamen Stimmungswechsel von
bis zu drei Prozent zustande. Die noch nicht festgelegten Wähler,
die unentschiedenen Zauderer, die konjunkturellen Nichtwähler sind
tagessensibel. Das kann bis zum Wahltag jedem Lager noch wichtige Stimmen
bringen oder ebenso entziehen. Noch immer sind fast 30 Prozent der Wähler
nicht entschieden. Drei Prozent beträgt in etwa auch die jeweilige
Fehlerquote der sogenannten Sonntagsfrage. Prognosen sind besonders in
den ostdeutschen Bundesländern schwierig. Bei der Landtagswahl in
Sachsen-Anhalt wich zuletzt das Ergebnis der FDP von den Prognosen teilweise
um vier bis fünf Prozentpunkte ab. Bedenkt man somit insgesamt solche
Stimmungsschwankungen und Fehlprognosen, dann zeigt sich, wie offen der
Wahlausgang für den 22. September faktisch noch immer ist.
Kanzlermacher sind ohnehin die kleinen Parteien in der Koalitionsdemokratie
der Bundesrepublik. 7,5 Prozent für die FDP (fallend) und 7 Prozent
für die Grünen (gleichbleibend) ermittelte aktuell das Politbarometer.
Die Duellierung der großen Volksparteien reduziert die Wahrnehmung
der kleineren Parteien. Doch ohne sie kommt keine Kanzlermehrheit zustande.
Wenn die PDS unter der Hürde von 5 Prozent bleibt und auch keine
ausreichenden Direktmandate vorweisen kann, würde es zur Zeit ganz
knapp für eine Fortsetzung der rot-grünen Regierung reichen.
Zieht die PDS in den Bundestag ein, wird rechnerisch eine erwartbare Regierungs-Koalition
zwischen zwei Parteien - rot/grün oder schwarz/gelb - immer unwahrscheinlicher.
Die Gewissheit wächst, das auch in Deutschland erstmals eine handlungsfähige
Mehrheit durch die Wahl nicht mehr zustande kommt. Entsteht eine Patt-Situation
zwischen den Lagern? Bildet sich eine Ampel-Koalition? Bleibt als Alternative
nur noch eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS? Das Abschneiden
der PDS bestimmt die Dramatik des Wahlabends und die nachfolgende Regierungsbildung.
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