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Die Welt vom 08. Dezember 2000

Die Baupläne der Gründer Europas sind längst vergilbt

Die Erweiterung höhlt die Idee der EU aus

Von Herbert Kremp


Berlin - Die Alarmrufe des Kommissionspräsidenten Prodi und die unruhigen Nächte, die der französische Europaminister Moscovici offenem Bekunden nach verbringt, gehören zu den europäischen Gipfelritualen wie das Kerzenanzünden beim Gewitter. Nizza wird nicht scheitern, sondern wird mit einem lärmigen Kompromiss enden, weil irgendetwas geschehen muss, das die unvermeidliche EU-Ausweitung vom Rübenacker auf die Landstraße bringt: Die Technik der Mehrheitsentscheidung wird auf einige weitere Politikfelder übertragen, es gibt eine Jogi-Lösung für die Kommissare, und bei der Gewichtung der Stimmen einen minimalen Zuschlag an die Deutschen, die nun einmal die Quantität auf ihrer Seite haben.

Die Stimmung wird das Ergebnis nicht heben, denn es ist mit Ermüdung erkauft. Längst haben alle Konstrukteure erkannt, dass ein anderer, nicht mehr der alte, vertraute Geist der Römischen Verträge die Europadebatte beherrscht. Seit der physische Außendruck des Kalten Krieges geschwunden ist und die deutsche "Zentralmacht Europas" das reale Machtmittel der Geldsouveränität der Gemeinschaft zugeschlagen hat, vergilben die ideellen Baupläne der Gründergeneration. Auf hohem, gelegentlich wissenschaftlichem Niveau wird über den "Abschied vom föderalen Europa mit staatsähnlicher Qualität" (Werner Weidenfeld) geklagt. Da sei eine trockene Frage erlaubt: Bestand für ein derartiges Gebilde je eine konkrete Chance, oder war es nicht immer ein Kompensationstraum der "abgebrannten" Deutschen?

Aber man muss Babylon aus der Ebene denken. Werner Hallsteins Koketterie des "unvollendeten Bundesstaats" hätte im Falle anhaltender europäischer Spaltung vielleicht doch eine Chance gehabt. Zwei gewichtige Gründe sprachen dafür: 1. Die geopolitische Konzentration der freien Lebensart auf der Westseite des Kontinents. 2. Die immer stärkere Selbsteinbindung der Westdeutschen in ein Europa, das für sie den Charakter des Nationalsubstituts angenommen hatte (man war jedenfalls auf gutem Wege). Die Öffnung ganz Europas bewirkte konsequent das Gegenteil: Die Rückgewinnung der Freiheit in Deutschland und Mittelosteuropa vollzog sich in Formen des nationalstaatlichen Risorgimentos. Und die Ausweitung der EU verstärkt die damit verbundenen traditional-mentalen Antriebe im bisherigen "domestizierten" Gemeinschaftsraum.

Die klarste Konsequenz daraus zog der Mann, der vor der EU-Aufnahme Spaniens, Portugals und Österreichs mit entschiedener Geste erklärte, der Tisch in seinem Konferenzzimmer biete nur "Platz für zwölf Staaten". Dies war 1987, und der Mann heißt Jacques Delors. Am 19. Januar dieses Jahres hob er in einem Interview mit "Le Monde" den "realen Widerspruch'' zwischen Erweiterung und Vertiefung der Union hervor. Mit 27 Mitgliedern (die Türkei nicht eingerechnet) entferne man sich notgedrungen "von einem politischen Europa, wie es durch Europas Väter definiert wurde". Es müsse deshalb einer kleinen Avantgarde erlaubt sein, "voranzugehen".

Damit hatte Delors das Thema intoniert, das im Juni in der Humboldt-Rede Joschka Fischers und der Ansprache Chiracs im Berliner Reichstag variiert wurde. Fischer schlägt vor, die Avantgarde, die er "Gravitationszentrum" nennt, mit einem "neuen europäischen Grundvertrag" auszustatten. Chirac will keinen neuen Vertrag, wohl aber ein "Sekretariat" als Mechanismus für die "Pioniergruppe". Entscheidend aber ist, dass in beiden Entwürfen der Nationalstaat als Subjekt und Entität fungiert, am deutlichsten natürlich bei dem Franzosen: Obwohl es Elemente der "gemeinsamen Souveränität" gebe, wie EZB, Europäischer Gerichtshof und die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, stellten "die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker" dar.

Aber auch für Fischer gehört die Zukunft nicht dem Superstaat (Bundesstaat), der als neuer Souverän die Nationalstaaten und ihre Demokratien ablösen würde, sondern eben jener Avantgarde, deren "verstärkte Zusammenarbeit" zunächst in den Formen einer "verstärkten Intergouvernementalisierung" ablaufen werde.

Bei Lichte besehen: Frankreich hatte für die politische Union nie etwas anderes im Sinn, während sich die Deutschen erst langsam und unter dem Druck der Ausweitung (Delors: "Verwässerung") auf den Nationalstaat zurückbesannen. Der neue Unterschied besteht darin, dass Fischer in der europäischen Föderation "geeigneter" Staaten ein Belebungsmittel erblickt, um den unfruchtbar gewordenen EU-Staatenverbund durch eine Art Zeugungsknall auf neue Integrationshöhen zu bringen. Als Deutscher ist er der postnationalen Erlösungslehre Adenauers, De Gaperis und Schumans näher, als die Franzosen es sein wollen. In Paris spielt man nur noch mit dieser Idee.

Was wäre dieses finale Europa, das sich im Muster der Avantgardestaaten kristallisierte? Projekt eines "nicht endenden Verfassungskonflikts", wie Außenminister Védrine es nennt? Teilung Europas in Bundes- und Regionalliga, in konkurrierende Vereine? Gar ein gespaltenes System mit Interessen, wie sie für die Staatenwelt des 19. Jahrhunderts typisch waren? Was immer man sich ausmalt: Zur Identität Europas trägt dieser Korrektur-Reflex auf die unmäßige Ausweitung der EU in Landschaften ohne Grenzen gewiss nicht bei.

Die Aufteilung Europas in befähigte und behinderte Partner bietet kräftigen Nationen eine Chance für neues Selbstverständnis, enthält als Gefahr jedoch ein unüberschaubares Potenzial der Diskriminierung. Die Avantgarde wäre nicht der Wahrer der Identität und würde auch nicht der "Logik der Stabilitätspolitik" (Werner Weidenfeld) entsprechen. Sie wäre das Resultat von Übergröße, der historisch die Reichsteilung zu folgen pflegt. Und sie würde fördern, was überwunden werden sollte, jedoch unter der Kruste der Institutionen überlebte wie der Krebs im Eis: die nationalstaatliche Idee.


   
           
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Aktualisiert am: 05.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang