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Die Zeit, 06. Dezember 2001 Die teutonische AgendaRot-Grün verheißt Europa hehre Ziele. Aber Berlins EU-Kurs ist unter Gerhard Schröder nationaler denn je Von Christian Wernicke BrüsselLaeken ist ein Vorort von Brüssel. Dort wird Europa, geografisch
betrachtet, also Ende nächster Woche einen belgischen Gipfel erleben.
Und rein formal darf Gastgeber Guy Verhofstadt, der Premier des kleinen
Königreichs, den Staats- und Regierungschefs aus 15 EU-Nationen seine
persönliche Tagesordnung vorschreiben. Politisch jedoch liegt Laeken anderswo. "Deutsch, deutsch und wieder deutsch" mutet einen belgischen Diplomaten an, was das Treffen vor den Toren der EU-Hauptstadt beherrschen wird: die Frage nach "der Zukunft Europas", die Suche nach einer Wegskizze, die Brüssel - irgendwie, irgendwann einmal - eine veritable Verfassung bescheren soll. Damit nimmt europäische Formen an, was der vermeintliche Privatmann Joschka Fischer im Frühjahr vorigen Jahres mit seiner Rede an der Humboldt-Universität anzettelte. Im Mai dieses Jahres adelte auch der Kanzler, verkleidet als Parteichef, Berlins Begehren nach einer Konstitution für den Kontinent. Sein SPD-Leitantrag zu Europa habe, so sagte Gerhard Schröder kürzlich beim Nürnberger Parteitag, überall "Aufsehen erregt - das sollte er auch". Beifall wogte auf, als umfing die deutschen Genossen ein Hauch von Avantgarde. Jenseits von Maas, Oder und Belt hingegen klingt das Echo verhaltener. Selbst ein integrationsfreudiger Diplomat aus den Niederlanden argwöhnt, die "teutonische Agenda" sei - trotz ihrer europhilen Vision von einem vollwertigen Parlament in Straßburg und einer Brüsseler Kommission als "starke europäische Exekutive" - vor allem eines: "eine nationale Blaupause, gezeichnet allein nach Berliner Denkmustern". Schröder (mehr als Fischer) male sich ein öderales Europa, dem der deutsche Nettozahler zugleich allerlei Kompetenzen entreißen wolle - "das passt so nicht zusammen". Das schürt Misstrauen. Und Widerstand bei jenen, die von Brüssels bisheriger Unordnung am meisten profitieren. Prompt warnte Frankreichs Premier Lionel Jospin davor, Europa dürfe "nicht nur ein Gehäuse" sein, sondern müsse "über seine Inhalte, seine Politik" erkennbar bleiben. Ganz ähnlich klingt, was neulich aus einem hochrangigen EU-Berater der portugiesischen Regierung herausbrach: "Die Deutschen wollen Europa als Skelett, als Knochen ohne Fleisch." Sicher, Paris wie Lissabon verteidigen da ihre baren Interessen - lieb gewonnene Agrarsubventionen, Fördermilliarden aus den Strukturfonds. Aber bei etlichen EU-Partnern grassiert seit Monaten derselbe Verdacht: Berlin meine, wenn es Verfassung sagt, nur die Renationalisierung ganzer Politikfelder - und weniger Tribut an Brüssel. Das SPD-Papier, ein nationaler Wolf im europäischen Schafspelz? "Das stimmt nicht", wehrt Martin Schulz ab, der Vorsitzende der SPD-Gruppe im Straßburger Parlament, "aber vielleicht haben wir zu wenig beachtet, welche Interpretationen das im Ausland auslöst." Brutale InteressenvertretungGenauso hatte es ja auch angefangen mit Rot-Grün: Lauthals wetterte der neue Kanzler 1998, dem Jahre Null deutscher Europapolitik nach Helmut Kohl, gegen das lästige Brüssel. Das hallt nach. Zwar stellte der Niedersachse sein verbales Sperrfeuer eilig ein, um auf dem Berliner EU-Gipfel einen klugen Kompromiss zu moderieren, der Deutschlands Finanzlast an Europa still und leise senkte. Auch die zügige EU-Erweiterung nach Osten, von Schröder anfangs skeptisch beäugt, zählt inzwischen zur Berliner Staatsräson. Im Stil jedoch blieb Schröder, der Mann mit dem Instinkt fürs Populäre, sich treu. Er tut das, was er einem europäischen Staatsmann kurz vor dem Machtwechsel prophezeite: Wenn's denn sein muss, werde er "deutsche Interessen brutal vertreten". Beispiel Osterweiterung. Die Art und Weise, wie Gerhard Schröder vor Jahresfrist der Brüsseler Kommission eine siebenjährige Übergangsfrist diktierte, ehe Tschechen, Polen oder Ungarn im Westen einen Job suchen dürften, verärgert bisher heute etliche Partner auch im Westen - "bei allem Verständnis dafür, dass die Deutschen da ein Problem haben". Kaum anders agierte das größte Mitgliedsland der EU, um östliche LKW oder kleine Handwerker vom deutschen Markt fern zu halten. Derweil bröckelt hinter Oder und Neiße die Stimmung für einen EU-Beitritt: "Wann wachen die Deutschen auf", fragt ein polnischer Diplomat, "erst, wenn meine Landsleute im Referendum Nein zu Europa gesagt haben?" Brüssel, so ließe sich überspitzt sagen, verkommt im deutschen Alltag mehr und mehr zur verlängerten Werkbank des Berliner Betriebs - "zur Geisel deutscher Innenpolitik", wie es ein EU-Diplomat ausdrückt. Dafür typisch ist, wie die Bundesrepublik auf die Ansätze einer europäischen Einwanderungspolitik reagierte. Erst wurde geblockt, dann Geduld eingefordert für die zähe Arbeit der Süssmuth-Kommission, hernach verhandelt zwischen Rot und Grün, zwischen Regierung und Opposition: "Und am Ende verlangt Berlin, dass sich ganz Europa nach einer deutschen Formel richtet." Man genügt sich selbst an der Spree. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Werner Hoyer, unter Kohl einst Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, diagnostiziert diese Gefühlslage überall im Reichstag: "Es gibt in der Elite dieses Hauses keinen, der wirklich persönliche Erfahrung in Sachen Integration hat." Auch Joschka Fischers Außenpolitik hält Hoyer diesen Widerspruch zwischen Vision und Tat vor: "Der verkündet erst, die Antwort auf die Anschläge vom 11. September sei 'mehr Europa'. Aber dann handelt er nur intergouvernemental." Damit riskiere Berlin, "am Ende EU und Nato zu schwächen". Auch Karl Lamers, der CDU-Außenpolitiker, hält Rot-Grün
dieses Versäumnis vor: Immerhin, seit den Anschlägen von New York und der Koalitionskrise um den Einsatz deutscher Soldaten gegen den Terror, hat Gerhard Schröder ein altes Wahlkampfthema wiederentdeckt: Europa als "unsere Antwort auf die Globalisierung". Das hatte der Kandidat schon 1998 verkündet - und dann vergessen. "Da herrschte", so gibt ein SPD-Europapolitiker zu, "zumal nach dem Abgang von Lafontaine, zwei Jahre lang ein Vakuum." Jetzt wird Brüssel erneut gebraucht, "um die Zukunft zu gestalten". Das klingt kämpferisch. Und das steht in merkwürdigem Widerspruch zur defensiven Rolle, die Berlin wirtschaftspolitisch sonst spielt. Alte EU-Experten reiben sich die Augen: Die Bundesrepublik, früher oft als "außenpolitischer Zwerg" bespöttelt, trachtet nach einer neuen Rolle auf der Weltbühne - und derweil schwächelt der einstige "ökonomische Riese", bremst der "kranke Mann Europas" (OECD) die Konjunktur im Euroland. Die Deutschen melden das niedrigste Wachstum, das höchste Staatsdefizit in der EU. Und Hans Eichel muss heilfroh sein, dass ihm der Stabilitätspakt im Wahljahr hilft, allerlei Begehrlichkeiten nach noch mehr Schulden abzuwehren. Europa als Schutzschild - nie war es so wertvoll wie heute. Als Symptome dieser ökonomischen Schwäche deuten Brüsseler Beobachter es freilich auch, wie die Bundesregierung im Namen der "Deutschland AG" mitunter gegen alle 14 Partner kämpft. Frits Bolkestein, dem für den EU-Binnenmarkt zuständigen Kommissar, platzte kürzlich der Kragen: "Korporatistische Reflexe", ja "wirtschaftlich nationalistische Gefühle" warf er Berlin vor. Da hatte Schröder, angeblich auf Druck von VW und DaimlerChrysler, gegen eine EU-Richtlinie agitiert, weil sie ausländischen Konzernen Tür und Tor zum Kauf deutscher Unternehmen öffne. Allen voran die deutschen Abgeordneten im EU-Parlament stimmten gegen den Kompromiss, der immerhin zwölf lange Jahre beraten worden war. Martin Schulz, der SPD-Obmann in Straßburg, ist dennoch stolz auf diesen Machtbeweis: Zu Hause werde "das Gewicht der SPD-Gruppe im Europäischen Parlament" doch zumeist geringer veranschlagt "als die Bedeutung irgendeiner Landtagsfraktion". Diese "eine schwere Fehleinschätzung" habe man korrigiert. Gerhard Schröder, der Genosse der Bosse, war dankbar. In früheren Fällen hatte er selbst einspringen müssen, etwa gegen eine zuvor vom eigenen Umweltminister abgesegnete EU-Regelung zur Verschrottung von Autos. Die Querschläge haben System, das offenbart die Statistik: Bei der längst fälligen Umsetzung von Binnenmarktrichtlinien in nationale Gesetze hängt Deutschland weit zurück, in insgesamt 150 Fällen hat die Brüsseler Kommission ein Vertragsverletzungs-Verfahren gegen Berlin eingeleitet. Besonders peinlich für Rot-Grün: Selbst bei Umweltregeln hinkt die Regierung hinterher. Der jüngste Streit um die allzu löchrige Ökosteuer passt ins Bild.Wohlgemerkt, Europas Regeln sind kein Selbstzweck. Sie sollen, so hat es Schröder vor eineinhalb Jahren unterschrieben, den Kontinent "binnen zehn Jahren zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt" machen. Um den Marktmächten der Globalisierung zu trotzen. Auch die deutsche Agenda zu Laeken mag dabei helfen. Schröder hat den Euro nicht gewollt - aber jetzt, wo er ihn hat, "muss Europa gelingen". Eine Verfassung würde den Kontinent handlungsfähiger und demokratischer machen. Und obendrein billiger, wie Josef Janning analysiert. "Bisher", so der Münchner Politikwissenschaftler, "brauchte die EU, dieses knirschende System, für ihre Kompromisse stets Geld als Schmiermittel." Vor allem: deutsches Geld. "Kaffee für alle" - diese traditionelle Rechnung gehe bei 27 Mitgliedsstaaten und einem kranken Riesen nicht mehr auf. Vielleicht sollte Berlin, ganz ehrlich, es einmal so sagen. |