![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Die Welt vom 16. November 2001 Die verunsicherte RepublikDebatte: Der Terror verwundet die Deutschen in ihrer Identität, Basis für eine neue Außenpolitik? Kriegszeiten sind auch Momente großer Worte. Von "historischer Zäsur", von "neuer Rolle deutscher Außenpolitik" ist die Rede. Unversehens ist Deutschland in ein Zeitalter geschleudert, in dem von ihm weltpolitische Führungskraft gefordert ist. Die Schwierigkeit der Regierung, die Koalitionsparteien auf die Kriegslinie einzuschwören, bringt Zweifel und Distanzierungen zum Ausdruck, die in der Gesellschaft vorhanden sind. Man muss also bei der Frage nach der "neuen Rolle deutscher Außenpolitik" die Tiefendimension gesellschaftlicher Befindlichkeiten sehen. Die Soziologin Helge Pross hat auf die Frage "Was ist typisch deutsch?" die Antwort gegeben: das Streben nach Sicherheit. Keine andere Nation fokussiert ihre Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen so sehr auf die Sicherheit wie die Deutschen. Daher trifft der Terror elementare Schichten unserer Identität. Sehr schnell ist die Debatte ins Grundsätzliche gegangen, zu Werten des Rechtsstaates und zur neuen Rolle deutscher Außenpolitik. Die Regierung Gerhard Schröders bedient kommunikativ solche Erwartungen: Sie zeigt Betroffenheit beim Blick auf New York; sie betreibt konsensorientiertes Management der Sicherheitsverbesserung; sie gibt eine Regierungserklärung zur deutschen Verantwortung beim Kampf gegen den weltweiten Terror ab. Und sie stellt ihre Entscheidung für die Bereitstellung der Bundeswehr in den Rahmen einer kulturellen Dankes- und Loyalitätsverpflichtung gegenüber den Amerikanern. In Wirklichkeit allerdings geht es um mehr - und es muss bezweifelt werden, ob die Akteure in Regierung und Opposition dies bereits realisiert haben. Der 11. September 2001 hat die Grundlagen unserer politischen Kultur an drei Punkten getroffen: 1. Die Basis unseres sicherheitspolitischen Denkens ist ausgehebelt. Abschreckung war das leitende Prinzip, dem Gegner wurde abwägendes Risikokalkül unterstellt. Solcher Ratio folgt das Terroristennetzwerk nicht. An die Stelle der Abschreckung tritt die Suche nach Schutz. 2. Die Verwundbarkeit der Gesellschaft rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Da sich die Terroristen mit gut finanzierten, hochtechnologischen Instrumenten in vielen Ländern eingenistet haben, wird die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit aufgehoben. Auf dieser Unterscheidung beruht die Architektur unserer bisherigen Sicherheit. Bundeswehr, Polizei, Verfassungsschutz, BND, BGS - wir halten große Apparate von gestern vor für eine Bedrohung, die völlig neue Profile und Prioritäten aufweist. In der Konsequenz geht es nicht nur um die Zusammenarbeit getrennter Dienste, um Vereinsrecht, Datenschutz und Einwanderungsgesetz. Es geht um eine grundlegende Neuorganisation der Sicherheit. 3. Gegen ein globales Netz des Terrors ist überfordert, wer auf sich allein gestellt ist. Weltpolitisch ergibt sich ein neues Gespür für die Notwendigkeit, Partner zu haben. Dies wird dem europäisch-amerikanischen Verhältnis neuen Sinn verleihen. Zudem wird sich diese Gemeinschaft um eine wirkliche Allianz mit Russland und China bemühen. Was heute geschieht, ist die Ablagerung einer neuen Schicht kollektiver Identität - historisch vergleichbar mit den wichtigen Einordnungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges: Westbindung und europäische Integration, Ostpolitik und deutsche Einheit. Seit geraumer Zeit lässt die deutsche Politik ein weiteres Tabu hinter sich: Die Definition und Artikulation nationaler Interessen gilt auch für Deutschland als legitim. Zur Bundestagswahl 1998 hatte die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag getrennt zu programmatischen Vorträgen über die Außenpolitik gebeten. Das frappierende Ergebnis bestand weniger im fast vollständigen thematischen Gleichklang als in der von allen erhobenen Forderung nach Definition deutscher Interessen. Die Aufgabe wurde bisher nicht erledigt, aber die deutsche Außenpolitik lieferte praktische Beispiele des neuen Selbstverständnisses. So kämpfte die Bundesregierung beim Gipfel von Nizza ungeniert für ihre Reforminteressen - auch wenn dies zu offenen Kontroversen mit Frankreich führte. Im Nahost-Konflikt bewies der Außenminister ein feines Gespür zur Vermittlung zwischen den Parteien - ein vor kurzem unvorstellbarer Vorgang. Die Übernahme von größerer Verantwortung wird zum umfassenden Chiffre. Aber verfügt die Außenpolitik auch über die notwendigen innerpolitischen Fundamente? Ambivalenzen sind unübersehbar. Der Bejahung des Kampfes gegen den Terror steht die Skepsis im Blick auf einen deutschen Militäreinsatz gegenüber, dem Bekenntnis zu Amerika Demonstrationen gegen den Krieg. Zur Taktik des Weißen Hauses gehört es deshalb auch, mit ihren Forderungen die Deutschen nicht zu überfordern. Man weiß dort, auf wie schmalem Grat Berlin sich bewegt. Das hat nicht nur seinen Grund in der Nervosität der Grünen. Die Gratwanderung hat viel tiefer liegende Gründe. Nie haben die Deutschen aufgehört, die Frage nach sich selbst zu stellen. Wohin gehören wir? In der Geschichte hat es viele Antworten darauf gegeben, von der Westbindung und Ostwendung über das Bewusstsein von Sonderweg und Mittellage bis hin zu Träumen von einem anderen Deutschland als geistiger Wirklichkeit. Unterschiedliche Traditionslinien laufen nebeneinander; versunken geglaubte Bilder erhalten neue Prägekraft. Die Frage nach dem künftigen Weg der Deutschen wird wesentlich entschieden vom Arsenal unserer geschichtlichen Bilder von uns selbst. |