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Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 6. November 2001
Kitt für die Partei.
Wie entstand das Grundsatzprogramm der CDU von 1994?
Rezension des Bandes: Ingrid Reichart-Dreyer: Macht und Demokratie in
der CDU. Dargestellt am Prozeß und Ergebnis der Meinungsbildung
zum Grundsatzprogramm 1994, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 200, 318 Seiten,
DM 58,--
Von Karl-Rudolf
Korte
Parteien sind lernende Organisationen, die professionell den Machterwerb
managen. Bei aller Kritik an manch augenfälliger Behäbigkeit
der klassischen Mitglieder- und Volkspartei haben sie sich dennoch angesichts
unkalkulierbarer Wählermärkte beweglich gezeigt. Das gilt vorrangig
bei den Reaktionen im Feld strategischen und kommunikative Herausforderungen,
weniger im Segment der Programmarbeit. Die offensichtliche Langsamkeit
der Parteien in der Aktualisierung ihrer jeweiligen Grundsatzprogramme
hängt mit dem Selbstverständnis der politischen Organisation
zusammen. Wenn eine Partei mehr sein will, als ein gerade regierender
Wahlverein, dann bedarf es eines gemeinsamen Werte-Fundamentes. Wer somit
Grundsatzprogramme fortschreiben möchte, muß mit grundlegenden
Identitätsdiskussionen innerparteilich rechnen.
Schon dies deutet an, wie sehr die Parteiführung gefordert ist,
um solche Aktualisierungsprozesse machttaktisch zu kanalisieren. Es verwundert
deshalb keineswegs, dass es zu einem der zentralen Ergebnisse von Ingrid
Reichart-Dreyer gehört, dem damaligen Parteivorsitzenden der CDU,
Helmut Kohl, eine absolut dominante Rolle im Arbeitsprozeß des Grundsatzprogramms
von 1994 zuzuschreiben. Von einem normativen Standpunkt aus kritisiert
die Verfasserin allerdings häufig diese Funktionalisierung der Parteiarbeit,
die offenbar dem Bild der Verfasserin von innerparteilicher Demokratie
nicht ganz entspricht. Das alte Programm von 1978 bedurfte nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts und der deutschen Einheit einer drastischen Überarbeitung.
Bundeskanzler Kohl übertrug als Parteivorsitzender zunächst
1991 die Leitung der Programm-Kommission auf Lothar de Maizière.
Als dieser der Politik den Rücken kehrte, setzte Kohl den jungen
Reinhard Göhner ein - damals Staatssekretär im Justizministerium.
Er war aus Sicht Kohls leichter einzubinden, als sein ehemaliger Stellvertreter
de Maizière. Nicht die Bundesgeschäftsstelle organisierte
die Programmarbeit, sondern ein neu eingerichteter Arbeitsstab.
Kohl hegte nach der Zerschlagung des innerparteilichen Widerstandes auf
dem Bremer Parteitag 1989 weiterhin Misstrauen gegenüber der Parteizentrale.
Aus dem Kanzleramt heraus hielt er über ein engmaschiges personalisiertes
Netz in jeder Phase der Diskussionen um das Grundsatzprogramm die Fäden
in der Hand. Dabei griff er, wie die Autorin feststellt, praktisch nie
aktiv in die Debatte in, sondern vermittelte eher den Eindruck des Moderators.
Gegenüber de Maizière soll Kohl gesagt haben: "Mach mir
ein anständiges Programm, mit dem ich die Wahl gewinnen kann."
Für den Parteivorsitzenden war die Kommissionsarbeit ein Instrument
des politischen Machterhalts. Für die Verfasserin sollte eine Programmarbeit
jedoch primär auf das Gemeinwohl zielen und das Ergebnis umfassender
Meinungsbildung sein.
Nach Auswertung der Kommissionsakten, der Sitzungsprotokolle und vielen
Gesprächen kann die Verfasserin die langwierigen Verfahren in den
unterschiedlichsten Partei-Kommissionen intensiv analysieren, die alle
der schwierigen Vorgabe folgten, am Ende in ein gemeinsames mehrheitsfähiges
Papier einzumünden. Für die Parteienforschung hat Reichart-Dreyer
somit eine wichtige Lücke geschlossen. Denn innerparteiliche Entscheidungs-
und Willensbildungsprozesse werden in der deutschen Politikwissenschaft
in den letzten Jahren eher vernachlässigt. Parteienforschung ist
häufig auf Wahlsoziologie begrenzt. Das Buch leidet jedoch daran,
dass gleichzeitig zwei Themen behandelt werden. Denn die Autorin möchte
gleichzeitig fragen, ob die Grundsatzprogrammarbeit die gesellschaftlichen
Probleme in Deutschland hinreichend wiederspiegelt. Reichart-Dreyer verkennt
dabei, das dies gar nicht die Absicht solcher Grundsatzkommissionen ist.
Primär dient die Programmarbeit in den politischen Parteien weniger
dem Außen- als dem Inneneffekt. Innerparteilich soll eine Mobilisierung
erreicht werden. Unzählige Gremien von der Bundes- bis zur Ortsebene
sind zu beteiligen. Mobilisierung über Themen soll den Kitt der Partei
ausmachen und die kommenden Wahlchancen erhöhen.
Die Verfasserin baut jedoch auf den ersten 90 Seiten ein wissenschaftliches
Verständnis von Parteien auf, durch das eine gesellschaftliche Steuerung
über Parteiprogramme möglich sein sollte. Die CDU hat daran
gemessen, ihre Chance verpaßt. An so einem hohen Anspruch gemessen,
können die Parteien allerdings nur Verlierer im medienpolitischen
Wettbewerb sein. Das Idealbild einer Partei kann mit dem Realbild der
CDU nicht übereinstimmen, weil die Mediendemokratie längst viele
Funktionen der klassischen Parteien übernommen haben. Hinzu kommen
Machterhalt-Strategien, die eine ausufernde, höchst kontroverse innerparteiliche
Streitkultur gerade zu verhindern haben. Die Wertungen in diesem Buch
sind somit kritisch zu kommentieren.
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