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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. August 2001 Mehr Licht . . .Nizza 2000: Gipfel und Vertrag in kritischen Analysen Werner Weidenfeld (Herausgeber): Nizza
in der Analyse. Von Marianne Kneuer Es dürfte wohl keinen Vertrag in der Geschichte der EG/EU geben, der so sehr nach intensiver Aufarbeitung ruft wie der Vertrag von Nizza. Nicht weil die Inhalte so bahn-brechend und visionär wären, die es zu entdecken gibt (eher das Gegenteil ist der Fall), sondern weil allerhand Ausleuchtungsarbeit vonnöten ist, um das bei dem Gipfel der Staatspräsidenten und Regierungschefs im Dezember 2000 fabrizierte Dickicht einigermaßen zu erhellen. Sei es für die Wissenschaftler, sei es für die interessierten Bürger oder sei es gar für die Politiker selbst. Die nötigen eingehenden Analysen, zugleich aber auch die Bewertung der Beschlüsse von Nizza inclusive möglicher integrationspolitischer Trends leistet "Nizza in der Analyse". Wie auch bereits zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam erarbeiteten das Centrum für angewandte Politikforschung und die Bertelsmann Stiftung einen kompakten, gründlichen und die wichtigsten Themen-bereiche abdeckenden Band, ergänzt durch eine CD-Rom mit relevanten Dokumenten. Nützlich auch die akribisch zusammengestellte, kommentierte Chronologie der Entwicklung von Amsterdam bis Nizza. Die Regierungskonferenz, die mit dem Gipfel in Nizza abge-schlossen wurde, hatte in erster Linie den Auftrag, drei Punkte zu entscheiden, über die bereits beim Amsterdamer Vertrag keine Einigung erzielt werden konnte, die aber unabdingbar waren für die bevorstehende Erweiterung der EU: nämlich die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen im Rat, die Neuordnung der Stimmengewichtung im Rat und die Struktur der Kommission. Claus Giering zeigt, daß zwar Regelungen für die sogenannten Leftovers getroffen und damit formal die Erweiterungsfähigkeit der EU erreicht wurde. Der komplizierte Stufenplan für die Anzahl der Kommissare sowie die ebenso komplizierte dreifache Mehrheitserfordernis im Rat und die Heraufsetzung der Mehrheitsschwelle verbessern jedoch mitnichten die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, sondern erhöhen eher noch das Blockadepotential. Auch bei dem Versuch, die Mehrheits-entscheidungen auf weitere Politikfelder auszudehnen, sind keine substantiellen Fortschritte erzielt worden, dafür aber eine selbst für Eingeweihte kaum mehr zu durchschauende Aufgliederung in Einzelfälle: Nur achtzehn Sachfragen sind unbeschränkt übertragen worden in die Mehrheits-entscheidung, die anderen sind "gesplittet", zeitlich verschoben, konditioniert et cetera. Als sei dies noch nicht genug der Wirrnis, sind die Änderungen der Bestimmungen im Nizza-Vertrag noch nicht einmal markiert. Zentrale Rückschritte stellen, so Giering, nicht nur die mangelnde Transparenz und Bürgerferne der Verhandlungen und Entschlüsse dar (Textkostprobe: "Neben dem Protokoll zur Erweiterung und der Erklärung dazu gibt es zudem nochmals eine Erklärung zur Erklärung . . ."). Neue Schranken seien aufgebaut worden, statt die Entscheidungsabläufe zu verbessern. Hürden in der Anwendbarkeit stellt auch Josef Janning fest in bezug auf die Absicht, die strengen Regelungen zur verstärkten Zusammenarbeit zu lockern. Heute würden selbst unter den neuen Regeln weder die Wirtschafts- und Währungsunion noch Schengen zustande kommen. Die wirklichen Fortschritte und beispielhaften Entwicklungen innerhalb der EU fanden außerhalb der Regierungskonferenz statt: im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik etwa durch die auf dem Kölner Gipfel 1999 beschlossene Sicherheitsgemeinschaft. Zu nennen ist hier auch der Konvent zur Grundrechtecharta unter Vorsitz von Altbundespräsident Roman Herzog, der ein Beispiel gibt an Effektivität, Bürgernähe, Transparenz und Text-verständlichkeit. Wenn auch die Sicht der Beitrittsländer, die Janis Emmanouilidis wiedergibt, insgesamt positiv ist, bleibt doch als Ergebnis der Beiträge, daß Nizza die notwendigen zukunftsweisenden Beschlüsse nicht hervorgebracht hat. Das Signal an die Beitrittsländer sei zwar gegeben worden, so Werner Weidenfeld, aber wirklich vorbereitet sei die EU auf die Erweiterung nicht. Ganz zu Recht vermißt er die gemeinsamen Zielvorstellungen über Richtung und Ausmaß der europäischen Integration und vor allem Konzepte für eine europäische Identität. Weidenfeld empfiehlt als legitimations- und identitätsstiftend "eine Art Verfassung". Die zentrale Frage aber ist, ob die Renaissance nationaler Interessenpolitik vor und beim Nizza-Gipfel lediglich ein "Ausrutscher" war oder das Beschreiten des Weges zurück zum Intergouvernementalismus. Gebremster Optimismus scheint bei den Autoren durch: Giering sieht Chancen in den parallel zu Nizza erfolgten Integrationsschritten, Weidenfeld hofft, daß Nizza als Warnung verstanden wird. |