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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 2001

Gemeinsame Identität gesucht.
Sind die Ost- und die Westdeutschen seit der Wiedervereinigung ein Volk geworden?

Jürgen Falter/Oscar W. Gabriel/Hans Rattinger (Hrsg.): Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich, Leske +Budrich: Opladen 2000, 711 Seiten, DM 98,--

Von Karl-Rudolf Korte


Die Deutschen waren schon immer verzweifelte Identitätssucher. Auf dem Markt der möglichen Offerten, die zumindest den Westdeutschen offen standen, blieb häufig nur Zuflucht in Trotz-Identitäten: Weil andere Nationen offenbar unbefragt über kollektive Identitäten verfügten, suchten sich die Deutschen Ersatz. D-Mark und Goldmedaillen, Europäische Integration und Multilateralismus boten willkommene Auswege aus dem Dilemma des fehlenden affektiven Bezugs zur Nation. Doch weder modern drapiertes postnationales Selbstverständnis noch vorgelebtes Teilstaatsbewusstsein oder der oberflächlich bemühte Kosmopolitismus überzeugten die europäischen Nachbarn. Die wandelbaren, unruhigen Deutschen blieben Thema, weil die deutsche Frage unbeantwortet war. Die Suche nach nationaler Identität und außenpolitischer Orientierung, die in diesen Orientierungsfragen ihren gemeinsamen Nenner hatte, waren Standardfragen, die gleichzeitig eine Standortfrage markierten: Wohin gehören wir? Doch noch vor der Frage nach dem "Wohin" stand die Frage nach dem "Wir". Beides war in der Geschichte der Deutschen nie eindeutig beantwortet.

Das gleiche galt mit umgekehrten Vorzeichen für die Bürger der DDR. Musterschüler in Sachen Sozialismus? Oder eher Nischenidentitäten in den nicht-öffentlichen Milieus des privaten Alltags? Mit der deutschen Einheit waren diese Fragen staats- und völkerrechtlich beantwortet, aber nicht politisch-kulturell. Die Suchbewegungen der Deutschen nach ihrer Identität sind deshalb immer wieder Antriebsmoment gewesen, um auch den Grad der Gemeinsamkeiten zwischen West- und Ostdeutschen zu vermessen. Für Sozialwissenschaftler bot sich nach der deutschen Einheit geradezu zwingend ein einmaliges Experiment an. Wann wird durch die Transformation des politischen Systems auch ein Einstellungswandel in politischen Orientierungen messbar sein? Wie viel gemeinsame politische Orientierungen und Verhaltensweisen sind notwendig, um Deutschland als ein Gemeinwesen und die Deutschen als ein Volk zu bezeichnen?

Die drei Herausgeber haben nach zehn Jahren einen geeigneten Markierungspunkt gesehen, um Ergebnisse des Experiments zu präsentieren. Grundlage sind Datensätze aus Repräsentativbefragungen aus den Jahren 1994 und 1998. Das Buch richtet sich an ein an der empirischen Sozialforschung geschultes Publikum. Denn es werden Methoden-, Indikatoren- und Modelltests vollzogen, die wertvolle Erkenntnisse für die politische Kulturforschung liefern. Fünf Themenfelder stehen in 20 Beiträgen im Zentrum: Wahrnehmung und Bewertung des politischen Systems, Politische Institutionen und Akteure, Wertorientierungen und Ideologien, Einstellungen zu Politik und Gesellschaft sowie Wahlverhalten.

Oscar W. Gabriel fällt eine kritische Bilanz. Zwar scheinen die Menschen in den neuen Bundesländern die Vorzüge einer demokratischen Ordnung gutzuheißen. Doch vielfach werden diese Einstellungen nicht mit der Idee der Demokratie in Verbindung gebracht. Die Zustimmung zur Idee der Demokratie ist in den 90er Jahren sogar zurückgegangen. Es besteht eine große Kluft zwischen Ost und West, wenn man die Einstellungen zum Konzept der Demokratie und zur Realität der Demokratie miteinander verbindet. Jürgen Maier ergänzt, dass das Wissen über politische Kontexte in den neuen Bundesländern noch immer signifikant unter dem Kenntnisstand der Westdeutschen liegt. Andererseits kann er nachweisen, wie in Ost und West große Ähnlichkeiten bestehen hinsichtlich der Beziehungsstruktur zwischen Politikinteresse und objektiven bzw. subjektiven politischem Wissen. Wolfram Brunner und Dieter Walz sehen große Parallelitäten in der Bewertung der politischen Institutionen: Es herrschen keine signifikanten Vertrauensunterschiede. Das Bundesverfassungsgericht genießt auch in Ostdeutschland das größte Vertrauen. Die Wähler sind in den neuen Bundesländern noch wählerischer als im Westen, wie Hans Rattinger belegt. Denn die Parteiidentifikationen sind noch weitaus geringer als im Westen.

Der politische Extremismus - hier der Rechtextremismus - ist je nach Auswahl der Kriterien in West- und Ostdeutschland etwa gleich stark ausgebreitet, wie Jürgen Falter argumentiert. Konkret beobachtet, verbergen sich dahinter jedoch äußerst unterschiedliche Phänomene. Auch die PDS pflegt als Regionalpartei einen Sonderstatus. Falter kann zeigen, wie die PDS zunehmend in den 90er Jahren ein Sammelbecken für Politikverdrossene wurde, die sich zwar benachteiligt fühlen, aber nicht rechts orientiert sind. Gesamtdeutsch erhielt die PDS bei dieser Personengruppe sogar einen Stimmenanteil von 16 Prozent. Diplomatisch bilanziert Falter zum Potential rechtextremer Einstellungen in West und Ost: "Angesichts der gemessenen Werte besteht weder Anlass zur Beruhigung noch zur Entwarnung." Dieses Bild rundet sich ab, wenn man den Beitrag von Jürgen W. Winkler hinzuzieht. Denn die Ausländerfeindlichkeit ist in Ostdeutschland zwischen 1994 und 1998 leicht angestiegen, während sie in Westdeutschland auf in etwa dem gleichen Niveau geblieben ist.

Lässt sich noch immer eine DDR-Nostalgie ermitteln? Diese Frage stellt sich Katja Neller. Abgrenzungsidentitäten sind durchaus verständlich. Denn sie sind eine Reaktion auf frustrierte Erfahrungen und Wahrnehmungen, die aus dem Modernisierungsschock der Einheit resultieren. Neller kann weder einen Trend zu stark rückläufigen noch zu stark anwachsenden nostalgischen Einstellungen messen. Die PDS bildet ein willkommenes Auffangbecken für alle DDR-Nostalgiker. Interessanterweise entdeckt die Autorin auch Facetten einer Westalgie, einer Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung, verbunden mit Abgrenzungstendenzen gegenüber den neuen Bundesbürgern. Fast völlige Übereinstimmung zwischen West und Ost lässt sich bei dem nahezu einheitlichen politischen Beteiligungsverhalten konstatieren, wie Iris Krimmel ermittelt. Das gilt sowohl strukturell als auch vom Niveau her. Konventionelles Beteiligungsverhalten steht überall hoch im Kurs.

Was bleibt als Fazit? Leider bietet das Buch für den Leser keine kommentierende oder problemorientierte Zusammenstellung aller Ergebnisse an. Nur mit einem Gesamtfazit wäre jedoch eine einheitliche Beantwortung der Fragestellung des Buches möglich gewesen. "Wirklich ein Volk?" Die Antwort liegt zwischen Ja und Nein. Doch kein Beitrag malt düstere Zukunftsszenarien. Annäherungen in einem Bereich werden von Abgrenzungen in anderen Einstellungssegmenten begleitet. Aber gilt das nicht letztlich auch für andere Divergenzen im Bereich regionaler politischer Kultur zwischen Nord- und Süddeutschen? In der Summe scheint das Experiment der Einheit politisch-kulturell auch geglückt zu sein. Man muss schon feine Messinstrumentarien aufstellen, um große Unterschiede zwischen West und Ost nach acht bis zehn Jahren ermitteln zu können. Es wäre reizvoll, mal Paralleluntersuchungen anzuschließen, die das politische Bewusstsein in allen Bundesländern ermitteln. Aber vermutlich ist solches Ansinnen nur wieder eine weitere Seite aus der unendlichen Geschichte deutscher Identitätssuche.


   
           
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Aktualisiert am: 05.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang