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Die Welt vom 22. Januar 2001

Neue Distanz

Was wollen die Europäer? Was wollen sie von den Amerikanern und ihrem neuen Präsidenten? Henry Kissinger stellte den versammelten Europäern bei der Tagung der Bertelsmann-Stiftung die Treuefrage.

Von Herbert Kremp


Amerika hat einen neuen Präsidenten - das macht für die EU eine neue Positionierung unumgänglich. Was Brüssel, Berlin, Budapest und vielen anderen Europäern noch bevorsteht, das Zusammenwachsen, hat Amerika seit langem hinter sich. Die Union weitet sich in die Zone des Zentrifugalen aus. Von 2003 an öffnet sich der konditionierte Durchlass für weitere zwölf mittelosteuropäische und mediterrane Mitglieder. Zum schieren Mengenproblem der am Ende 27 - mit der Türkei 28 - Staaten und ihren finanziellen, institutionellen und administrativen Problemen tritt die Frage der Begrenzung. Wo endet geographisch und kulturell, was sich dann in EU-Kommission und Ministerräten tummelt? Vor allem aber: Wie hält es zusammen? Wird daraus eine europäische "UNO", eine zweite OSZE - oder entstehen am Ende die Vereinigten Staaten von Europa, Gegenmacht an der Gegenküste Amerikas?
Zum Thema des "entgrenzten Europas" hat die Bertelsmann-Stiftung die Politprominenz aus allen Teilen des geöffneten, aber noch nicht vereinigten Erdteils nach Berlin zusammengetrommelt. Im "Weltsaal" des neoklassizistisch anmutenden Ensembles des Auswärtigen Amtes begegneten die Staatschefs und Außenminister der mittelosteuropäischen Aufnahmekandidaten der deutschen Regierungsspitze, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, der EU-Hochbürokratie um Kommissionspräsident Romano Prodi, der intellektuellen Community und den Chefdirigenten von einst, Henry Kissinger und Jacques Delors. Nur eines schien dem Arrangeur der Tagung, Professor Werner Weidenfeld, nicht gelungen zu sein: Von der gegenwärtigen schwedischen Ratspräsidentschaft fand sich kein einziger Name auf der Vortragsagenda.

Während die Mittelosteuropäer, angeführt von den Präsidenten Litauens (Adamkus), Sloweniens (Kucan) und dem polnischen Außenminister Bartoszewski, selbst der um Aufmerksamkeit ringende Präsident der Ukraine, Kutschma, die EU-Konferenz von Nizza als Signal für die Aufnahmebereitschaft der Gemeinschaft begrüßten, bemühten sich die erfahrenen Protagonisten der Gemeinschaft, ihre Enttäuschung über die institutionelle Mängelliste zu beherrschen. War die Schlusskonferenz das Ende des supranational integrierten Europas oder nur ein französischer Unglücksfall? Niemand in der Runde bezweifelte, dass die nationalen Interessen dort Urständ gefeiert und den Weg zu durchgehenden Mehrheitsentscheidungen bis auf weiteres blockiert hat. Ist das der Preis für die künftige schiere Größe der Union? Errang die Staatenkoordination den Sieg über eine kompakte politische Union?

Im "Weltsaal" machte sich erleichtertes Staunen breit, als Bundeskanzler Schröder ein Bekenntnis zur Integration (Vertiefung) der Gemeinschaft ablegte, während er doch in Nizza dem nationalen Interesse den Vorzug eingeräumt hatte. Der überraschende Schwenk mag für die konkrete Politik nicht viel bedeuten, verfolgte aber den Zweck, den ins Stottern geratenen deutsch-französischen Zwillingsmotor demonstrativ anzuwerfen. Ein Obolus? Dass die Franzosen der EU-Ausweitung skeptisch gegenüberstehen, weil sie den Schwerpunkt der Gemeinschaft nach Osten verlagert und Deutschland den Weg zur dominanten Macht bereitet, ist kein Geheimnis, sondern der inzwischen offenbar gewordene Grund für das Beinahe-Scheitern der Schlüsselkonferenz in dem französischen Badeort. "Deshalb spielte Paris den Ball dort ganz flach", erklärte ein prominenter Kenner der französischen Psyche.

Die zweite Überraschung der Tagung ist dem Gewicht zuzumessen, das die im Quantensprung begriffene EU trotz aller institutionellen Defekte und konzeptionellen Zweifel in den Augen der Amerikaner erreicht hat. Henry Kissinger fragte die versammelten Europäer, was sie mit der (in Nizza sanktionierten) autonomen Verteidigung und Eingreiftruppe eigentlich wollten - ob sie militärisch auch dann handeln würden, wenn die USA das nicht wollten - und wo. Die Frage war - für Kissingers Verhältnisse - provokativ gestellt und erhielt auf dem Hintergrund der Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten einen fast dramatischen Klang. Prodi und der EU-Außenpolitiker Solana wehrten ab : Alle Fragen dieser Art seien im Grundsatz ja im Bündnis geklärt. Doch wurde den Diskursteilnehmern schlagartig klar, dass Kissinger seine Frage nach der künftigen Bündniskonformität der Europäer aus der intimen Kenntnis der neuen US-Regierung platziert hatte. Die Mannschaft Bushs ist in wesentlichen Teilen dieselbe, die 1989/90 den Kalten Krieg gewonnen hat und die Sowjetunion aus der mitteleuropäischen Position verdrängte. Aus dieser Ära bezieht sie ein Machtbewusstsein, das sich auch in Europa zur Geltung bringen wird.

In diesem Licht stand ein interessantes Zwischenspiel, das der Chef der russischen Jabloko-Partei, Jawlinski, mit dem Vorschlag einleitete, die EU solle ihre Verteidigungskomponente durch eine gemeinsame europäisch-russische Raketenabwehr ergänzen (man könne die USA ja hinzubitten). Die deutsche Seite (Staatssekretär Ischinger und Wolfgang Schäuble) fanden die Einladung zur Petersburger Schlittenfahrt diskussionswürdig, wollten dann aber doch nicht auf dem Gefährt Platz nehmen, um die Inauguration Bushs und seines gewieften Teams nicht gleich mit dem heiklen Stoff des Raketenabwehrsystems zu belasten. Kissinger, wieder ganz sonor, bemerkte privat und trocken, dass wohl niemand Bush an dem Aufbau des Systems und dem Umbau der Verträge hindern könne, wenn die Technik den Weg freigebe.

Die EU gehört, wie sich in Berlin zeigte, zu den weltpolitischen Spielern, obwohl sie nicht weiß, wie sie ihre Größe organisieren und begrenzen soll. Zu diesem Schicksalsthema steuerte Jacques Delors seinen schon bekannten Avantgarde-Vorschlag bei, den Joschka Fischer in der Humboldt-Universität variiert hatte: Diejenigen Staaten, die wollen und können, sollen sich enger zusammenschließen und vorangehen. Dass es sich dabei um Staaten aus dem Kreis der 15 Altmitglieder handeln wird, ist nicht ohne Pikanterie: Die Integrationstraditionalisten sollen eine Art offenen Klub bilden, in dem dann der deutsch-französische Motor beständig tuckert und der die Deutschen fern hält von den "ottonischen" Weiten einer Ostpolitik, die im europäischen Kollektivgedächtnis als deutsche Versuchung gilt.


   
           
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