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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Januar 2001 Wählerische WählerJan van Deth/Hans Rattinger/Edeltraud Roller (Hrsg.):" Die Republik auf dem Weg zur Normalität. Wahlverhalten und politische Einstellungen nach acht Jahren Einheit", Leske und Budrich: Opladen 2000, 442 Seiten. Das goldene Zeitalter politischer Parteien ist längst vorbei. Hohe Stammwähleranteile und ein stabiles mithin berechenbares Wahlverhalten existieren nicht mehr. Wenn somit der zentrale Filter für eine Wahlentscheidung, die Sympathiebekundung für eine Partei, nicht mehr greift, wächst der Ausmaß der Spekulation. Verlässliche und methodisch gereifte Daten liefert dennoch die Wahlforschung, allerdings häufig erst rückbetrachtend. So umkreisen die Autoren in ihren 26 Beiträgen weitgehend den Wahlzeitraum 1990 bis 1998. Die Analysen richten sich an ein empirisch und methodisch vorgebildetes Fachpublikum. Dabei bleibt leider bis zum Schluss unklar, was der Maßstab sein soll, um "Die Republik auf dem Weg zur Normalität" zu beurteilen. Dazu hätten vergleichende Analysen mit anderen komplex entwickelten Verhandlungsdemokratien vorgenommen werden müssen. So entsteht nur die Vermutung, dass sich die Normalität auf die Angleichung des Wahlverhaltens zwischen West- und Ostdeutschen bezieht. Verständlicherweise sind bei der Bundestagswahl von 1998 noch beträchtliche Unterschiede zwischen dem westdeutschen Wahlbürger und dem Ostdeutschen ermittelbar. Aber der Abstand schmilzt dahin. Wie in den Beiträgen von Deflef Pollack, Gert Pickel, Zoltán Juhász und Jürgen Maier erarbeitet wird, existieren Unterschiede bei den Einstellungen und Verhaltensweisen, die in direktem Zusammenhang entweder mit der Sozialisation im sozialistischen System der DDR oder der sozialen und ökonomischen Lager im post-kommunistischen Ostdeutschland stehen. Ostdeutsche bringen immer noch der Idee des Sozialismus eine größere Sympathie entgegen als Westdeutsche. Insgesamt sind, wie Harald Schoen nachweist, die Daten zur Beurteilung des Wahlverhaltens in Ostdeutschland mit größerer Vorsicht und Zurückhaltung zu bewerten. Sie sind offenbar weniger zuverlässig. Perspektivisch ist das Zusammenwachsen der beiden Elektorate nur zu erwarten, wenn sich auch im Kontext der fortschreitenden Transformation die ökonomischen Lebensverhältnisse angleichen. Spannender für zukünftige Wahlkämpfe könnte die Frage nach den Motiven für das Wahlverhalten sein. Die Wucht der Kohl-Abwahl 1998 brachte eine Konjunktur für die Wahlforscher, die eine personenzentrierte Motivation favorisierten. Bernhard Weßels erinnert zurecht einleitend zu seinem Beitrag "Kanzler- oder Politikwechsel?" an die Besonderheiten des Wahlergebnisses von 1998. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde unmittelbar durch ein Wahlergebnis ein Regierungswechsel herbeigeführt. Kein Koalitionswechsel im Sinne eines dosierten Machtwechsels kam 1998 daher. Kontinuitätssprengend blieb beim damaligen Machtwechsel kein Koalitionspartner der alten Regierung im Amt. Auch das Wahlergebnis war in seiner eindeutigen Mehrheitszuschreibung so von niemandem erwartet worden. Die Besonderheiten des Wahlergebnisses lagen aber nicht, wie Weßels präzise erarbeitet, darin, dass der Kandidat Schröder diesen Erfolg herbeiführte. Das Kandidatenprofil des neuen Machers Schröder gegen den Altkanzler Kohl hat geholfen, aber nicht so zentral, wie es übereinstimmt zunächst unterstellt wurde. Vielmehr kann nachgewiesen werden, wie die durch die Bürger wahrgenommene Sachfragenkompetenz der SPD - besonders im Umfeld der Arbeitsmarktpolitik - nicht nur einen stärkeren Effekt auf die individuelle Wahlentscheidung hatte, sondern auch größere Effekte auf die neu gewonnenen Wähleranteile. Der Wähler sah am Ende die Probleme als wichtiger an, die zum sozialdemokratischen Politikmuster zu rechnen waren. Schröder sorgte, wie Weßels ein wenig unterschlägt, besonders durch das Tandem mit Lafontaine für die Wählermobilisierung der sogenannten Neuen Mitte. "Innovation und Gerechtigkeit" diese Sachorientierung konnte der Wähler eindeutig bei der SPD personalisieren. Wer sich für Schröder entschied, musste mit Lafontaine rechnen und vice versa. Nur so konnte die zwingend notwendige Stimmigkeit zwischen Personen und Programm hergestellt werden. Diesen Gedankengang nehmen Ulrich Eith und Gerd Mielke wieder auf. Sie untersuchen Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat und zur sozialen Gerechtigkeit. Die zukunftsweisende Originalität ihrer Fragestellung liegt darin herauszufinden, ob es sich bei der sozialen Frage um eine sogenannte neue Konfliktlinie handelt. Wenn das so wäre, hätte das für zukünftige Wahlen einen dominanten Charakter. Eindeutig können Eith und Mielke nachweisen, wie die Trennlinie zwischen großen Teilen der Wählerschaft von CDU und SPD verläuft. Der Wunsch nach einem Regierungswechsel hatte Gründe, die mit der sozialen Frage unmittelbar zusammenhingen. Die Sozialdemokraten profitierten bei ihrem Wahlsieg von Gefühlen der sozialen Verunsicherung und Benachteiligung, die bis weit in bürgerliche Kreise hinein reichten und sich zudem mit Erwartungen an ein effektiveres staatliches Handeln gerade im Bereich der Arbeitsmarktpolitik verbunden hatten. Eine Renaissance der sozialen Konfliktlinie in der Wählerschaft hat somit den Wahlsieg Gerhard Schröders mit bewirkt. Dies relativiert eindeutig alle Thesen von der Neuen Mitte, die sich als Wahlkampfinstrument bewährte, jedoch empirisch nicht nachweisbar ist. Um so verständlicher sanken die Sympathiewerte gegenüber der neuen Bundesregierung als im Kontext des "Blair-Schröder-Papier" die soziale Frage neoliberal beantwortet zu werden schien. Hier wird die zukünftige Herausforderung zu suchen sein: wohlfahrtsstaatliche Zugewinne glaubhaft zu versprechen und gleichzeitig parteipolitisch ungebundene Bevölkerungskreise zu mobilisieren. Das Buch liefert somit insgesamt reichhaltiges Material für inhaltliche politische Auseinandersetzungen im Kampf um Wählerstimmen. Es warnt, ohne es zu problematisieren, vor vordergründiger personenzentrierter Effekthascherei. Die Wähler wählen zwar wählerischer, aber durchaus programmorientiert. |