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Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 31. Januar 2000
Die Archillesferse Europas
Die EU muss darüber nachdenken, was sie aus sich selbst machen
will.
Von Werner
Weidenfeld
Der Beginn einer neuen Epoche ist nicht immer mit einer spektakulären
Zäsur verbunden. Gegenwärtig vollzieht sich ein weitgehend geräuschloser
Abschied vom alten Europa: Mit den Erweiterungsbeschlüssen des Gipfels
von Helsinki wird erstmals nicht mehr nach einem europäischen Selbstverständnis
als Kitt für die große Europäische Union gefragt.
Damit verändert der Integrationsvorgang seinen Charakter - von den
einen begrüßt, und den anderen kritisiert. Bemerkenswert erscheint,
dass ein politisches System seine Identität wechselt ohne eine begleitende
politisch-kulturelle Selbstverständigung seiner Bürger, nicht
einmal seiner Eliten. Die Entscheidung, die Union von heute 15 Mitgliedern
auf 27 Mitglieder zu vergrößern und zusätzlich der Türkei
der Kandidatenstatus für die 28. Mitgliedschaft anzutragen, fand
ohne eine orientierte Strategiedebatte statt. Der Abschied vom Versuch,
europäische Identität zu vertiefen und damit eine kulturelle
Grundlage für politische Handlungsfähigkeit zu schaffen, wird
sich historisch als die eigentliche Achillesferse Europas erweisen.
Politische Systeme, die handlungsfähig und stabil bleiben wollen,
benötigen einen Grundkonsens über Zweck, Richtung und Ausgestaltung.
Im Umfeld der Beschlüsse von Helsinki unterblieb dazu aber jeder
Versuch. Eher beiläufig wurde vollzogen, was Europa mittelfristig
ein neues Gesicht geben wird. Manch ein Gipfelteilnehmer wollte wohl der
belastenden Heuchelei im Umgang mit der Türkei ein Ende setzen. Nachdem
im Assoziierungsvertrag von 1963 der Türkei eine Beitrittsperspektive
verbrieft worden war, drückte sich das integrierte Europa über
Jahrzehnte um klare Positionen herum. Irgendwie schien die Türkei
nicht ins europäische Konzept zu passen - nicht christlich, nur mit
Einschränkungen demokratisch, nicht ohne schwer wiegende Menschenrechtsverletzungen
und zudem eine Bedrohung für den heimischen Arbeitsmarkt. Mit Recht
fühlte die Türkei ihre Würde durch die unaufrichtige Behandlung
durch die Europäer verletzt.
Nun - zur Jahrtausendwende - schien alles anders, ohne dass sich in der
politisch-kulturellen Substanz etwas geändert hatte. Die Revision
der bisherigen Haltung der Europäischen Union erfolgte von verschiedenen
Seiten: Der Druck der Amerikaner, das NATO-Mitglied auch europapolitisch
zu integrieren, zeigte Wirkung. Die Notwendigkeit, den Balkan stabilitätspolitisch
einzurahmen, erschien evident. Das Mitleid mit dem von Erdbebenkatastrophen
heimgesuchten Land schuf eine neue emotionale Färbung. Aber mit dem
Ergebnis einer strategischen Reflexion über die Zukunft Europas hat
dies alles nichts zu tun.
Die Erweiterungsentscheidung der Europäischen Union wird einst als
historischer Beleg für den konzeptionellen Verfall des europapolitischen
Denkens gelten, der seit Jahren beobachtet werden kann.
In den Gründerjahren war die Integration die große Antwort
auf die Kriegserfahrung: Frieden, Wiederaufbau, Anti-Nationalismus, gemeinsame
Macht, wirtschaftliche Wohlfahrt - dies alles verband sich mit dem epochalen
Konzept, die Kriegsgegner von Gestern in einer neuen Gemeinschaft der
Demokratien zu verbinden. Föderalismus und Funktionalismus gingen
eine fruchtbare Ehe ein. Die Rede Walter Hallsteins vom "unvollendeten
Bundesstaat" geriet zur Zielprojektion einer epochalen Orientierung.
Als das Programm der Römischen Verträge Ende der 60er Jahre
weitgehend realisiert war, brach eine erste Phase konzeptioneller Ratlosigkeit
aus. Wohin sollte die Europäische Gemeinschaft nun nach kurzer Erfolgsgeschichte
steuern? Die Staats- und Regierungschefs beschränkten sich als Antwort
zunächst auf eine Worthülse: Die Zukunft solle als 'Europäische
Union' fixiert sein. Jahre später versuchte man, den Inhalt nachzuschieben.
Man beauftragte den damaligen belgischen Ministerpräsidenten Leo
Tindemans mit einem großen Bericht über die Europäische
Union.
Tindemans entwickelte eine interessante Methode. Er ließ den Bericht
nicht in einer kleinen Experten-Kammer abfassen, sondern befragte Regierungen
und Parlamente, Parteien und Verbände, Intellektuelle und Vertreter
der Massenmedien. So entstand ein Konzept, das von der Direktwahl des
Europäischen Parlaments bis zur gemeinsamen europäischen Außenpolitik
die künftigen Etappen europäischer Fortschritte umriß.
Es war wohl bisher die letzte Anstrengung, eine europäische Debatte
zu führen. Jacques Delors versuchte nochmals an dieser Tradition
anzuknüpfen, als er die Vollendung des europäischen Binnenmarktes
forcierte. Aber selbst das Jahrhundertwerk der Einführung einer gemeinsamen
europäischen Währung musste gänzlich ohne politisch-strategische
Erörterung ihrer Ziele und Konsequenzen auskommen. Institutionen
und Kompetenzen wurden über die Jahre in pragmatischer Zufälligkeit
ergänzt. Ein intransparenter Dschungel entstand. Dennoch blieb der
Magnetismus der Union für immer neue Mitglieder ungebrochen.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts fehlte für ein orientierendes
Innehalten die Zeit und die Kraft. Die Aussicht, Gesamteuropa einzubeziehen
zu können, aus einem Torso ein Gesamtkunstwerk zu machen, verlieh
dem Vorgang seine historische Wucht, von dem die Europapolitik gleichsam
überrollt wurde.
Die Erweiterungsbeschlüsse von Helsinki sind der Nachhall. Die Europapolitik
tut so, als gelte es nur, die alte Logik fortzusetzen: So wie die Gemeinschaft
der Sechs zur Union der Fünfzehn wurde, so soll sich Europa nun in
den Verbund der 28 verwandeln.
Als man während und nach dem Gipfel von Helsinki doch die weitergehende
Dimension der Entscheidungen ahnte, wurden die tiefergehenden Fragen erstickt:
Bei der anstehenden Regierungskonferenz zur Reform der Europäischen
Union gelte es, die Handlungsfähigkeit zu sichern, die Effektivität
zu steigern und die Legitimation zu vertiefen. Dies könne geschehen
durch Vereinfachung der Entscheidungsprozesse nach Maßgabe eines
Zwei-Kammer-Systems, durch Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen, durch
Korrektur der Stimmgewichte im Ministerrat, durch Stärkung der Führungskompetenz
der Kommission und durch klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen europäischer
und nationaler Ebene. Diese Gemeinplätze wären durchaus plausibel
und befriedigend, wenn es sich nur um das Europa der sechs bis fünfzehn
Mitglieder handelte. Doch im Europa der 28 wird eine andere Sprache notwendig.
Sie wird erzwungen durch Selbstverständnis und Größe des
neuen Europas.
Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei
wurden mit der Feststellung beantwortet, Europa sei nicht an die christliche
Religion gebunden. Dies gibt das heutige Selbstverständnis sicherlich
zutreffend wieder. Europa wird als eine offene, plurale, weltanschaulich
neutrale Größe verstanden. Niemand darf wegen seines Glaubens,
seiner Überzeugung und seiner nationalen Herkunft diskriminiert werden.
Dennoch greift der Verweis auf den weltanschaulichen Pluralismus im Blick
auf das Raumbild und die Identität Europas zu kurz.
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges der Philosoph Karl Jaspers gefragt
wurde, was denn nun in all diesen Ruinen von Europa bleibe, da antwortete
er: "Die Bibel und die Antike". Damit war nicht das Monopol einer Religion
und einer spezifischen Lebensweise gemeint. Vielmehr ging es um die Prägung
des europäischen Selbstverständnisses, die aus einer spezifischen
Verbindung des rationalen Denkens der Antike mit der transzendenzorientierten
Symbolwelt des Christentums entstanden war. Es hat durch die Jahrhunderte
auch das Raumbild Europas fixiert. Ganz eng waren geographische und normative
Elemente in der Selbstwahrnehmung der Europäer miteinander verbunden.
"Wir Europäer" - das hieß zu keinem Zeitpunkt, dass in diesen
Horizont gemeinsamer Selbstwahrnehmung die Türkei einbezogen war.
Das Osmanische Reich spielte über lange Zeit in Europa eine Rolle.
Seine Verfallsgeschichte kennzeichnet noch heute die kulturellen Konfliktlinien
in Südosteuropa. Aber es wurde immer als ein Gegenüber, nie
als Teil Europas angesehen.
Und umgekehrt gilt: Zu keinem Zeitpunkt hat sich die türkische Gesellschaft
wirklich und in ihrer Mehrheit als ein Teil Europas definiert. Zweifellos
wird die Türkei die Auflagen der Europäischen Union - Demokratie,
Marktwirtschaft und Menschenrechte - auf mittlere Sicht erfüllen
und damit die Hindernisse für eine Mitgliedschaft abräumen.
Wie die türkische Gesellschaft auf die damit erzwungenen Prozesse
der Modernisierung und der Verwestlichung reagieren wird, erscheint heute
offen. Fundamentale Gegenbewegungen sind nicht auszuschließen. Es
gehört wenig Phantasie zu der Annahme, dass es in der Türkei
zu großen Auseinandersetzungen zwischen einer pro-europäischen
politischen Elite und einer auf islamischen Eigenwert beharrenden Gesellschaft
kommen wird. Gleich, wie dieser Konflikt ausgehen wird, man kann gewiß
sein, daß sich die türkische Gesellschaft nicht europäisch
definieren wird.
Wenn aber das Kriterium "europäische Identität" entfällt,
dann entfällt auch jedes Argument gegen einen späteren Beitritt
weiterer Staaten - Russland, Ukraine, die Kaukasus-Republiken, Nordafrika,
der Nahe und Mittlere Osten. Es gelten dann nur noch Gesichtspunkte der
Stabilitätspolitik. Dies mag unter der neuen Konstellation der Weltpolitik
sinnvoll sein, weil die internationale Politik nach neuen Ordnungsmustern
sucht. Ein großer Stabilitätsraum Europa könnte hier ebenso
bedeutsam werden, wie ein weit nach Südamerika ausstrahlendes Nordamerika
und ein den asiatischen Raum führendes Tandem von China und Japan.
Das alles hat seinen eigenen Wert - aber es ist weit entfernt von der
alten Vorstellung, die ein föderales Europa mit staatsähnlichen
Qualitäten anstrebte. Der neue europäische Stabilitätsraum
wird in seiner Handlungsfähigkeit näher an UNO und OSZE als
an der früheren Europäischen Gemeinschaft liegen. Schon die
schieren Größenordnungen des Europa der 28 machen dies anschaulich:
Die Bevölkerung der Europäischen Union würde von heute
371 Millionen auf 539 Millionen anwachsen; etwa doppelt so viel wie die
der Vereinigten Staaten. Das Bruttosozialprodukt läge mit rund 9.000.000
Millionen Dollar um zirka 15 Prozent über dem der Vereinigten Staaten.
Die wirtschaftliche Heterogenität wüchse mit Folgen für
ökonomische Struktur und Beitragsfähigkeit. Ist heute das Verhältnis
zwischen ärmsten und reichsten Staat in der EU pro Kopf gerechnet
1:3, so wird es künftig 1:30 sein. Keiner der Beitrittskandidaten
erreicht - auch nicht der reichste, wie Slowenien - das Bruttosozialprodukt
der heute ärmsten Mitgliedsländer der Europäischen Union.
Ein solches Potential könnte einerseits den Status einer Weltmacht
definieren: zirka 35 Prozent der Weltproduktion (Vereinigte Staaten 27
Prozent) und zirka 30 Prozent des Welthandels (Vereinigte Staaten 18 Prozent)
liegen in europäischen Händen. Andererseits würde das Europa
der 28 von einer extremen ökonomischen und ethnischen Heterogenität
gekennzeichnet, so daß es vornehmlich mit seinen internen Konflikten
befaßt sein wäre.
Bereits in der ersten, in zwei bis drei Jahren anstehenden Erweiterungsrunde
verschiebt sich das europäische Gemeinwesen bis an die Grenzen Russlands,
der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens. Im Europa der 28 hätte
die Europäische Union außerdem direkte Grenzen zu Syrien, Irak,
Iran, Armenien und Georgien. Diese direkten Nachbarschaften stellen eine
stabilitätspolitische Herausforderung dar, deren Ausmaß sich
bisher kaum jemand klar gemacht hat.
Ein solcher Großraum namens Europäische Union, der sich weit
über die Grenzen des bisherigen alten Europas hinaus dehnt, wird
sich nicht mehr nach dem Muster der Römischen Verträge regieren
lassen. Daraus lassen sich zwei Haltungen zur Interpretation gewinnen:
Entweder man versteht die Erweiterung der EU als Schlussphase einer großen
Erfolgsgeschichte. So wie frühere Imperien wird auch die Europäische
Union durch Überdehnung ihrer Raumvorstellung erodieren und eines Tages
untergehen. Oder man läßt sich auf die neue Lage ein. Dann
wird die Europäische Union eher die Rolle eines krisenregelnden Systems
kollektiver Sicherheit - ähnlich der heutigen OSZE, ergänzt
durch einen Gemeinsamen Markt - übernehmen. Die Stabilitätsqualität
dieses Raumes sollte nicht unterschätzt werden. Alle weiterführenden
Ambitionen aber werden nur in Teilregionen der großen Europäischen
Union zu realisieren sein. Währungsunion, Verteidigungsunion - alles
dies wird mit eigenen Entscheidungsprozeduren und eigenen institutionellen
Vorkehrungen zu versehen sein.
Was mit dem Flexibilitätsartikel des Vertrages von Amsterdam schüchtern
angedacht wurde, was den Konzepten der Differenzierung zugrunde lag: in
der nächsten Ära der Europapolitik wird es zu Ende gedacht werden
müssen. So wie in den fünfziger Jahren die Existenz von UNO
und NATO die Gründerväter nicht daran hinderte EWG, EGKS und
Euratom zu gründen, so wird künftig die Existenz der Europäischen
Union die Staaten nicht daran hindern dürfen, ihre regionalen Teil-Gemeinschaften
zu gründen. Das Ziel müßte es sein, Effizienz und Handlungsfähigkeit
zu gewinnen, die im Europa der 28 für viele Themen nicht mehr zu
erreichen sein wird.
Wer sich Ausmaß und Tragweite dieses Wandels vor Augen führt,
spürt das Defizit einer fehlenden Strategie-Debatte um so schmerzlicher.
Man fühlt sich an Dolf Sternbergers Ausruf erinnert: "Nein, eine
Idee, die Europa hieße, die gibt es nicht." Im Sinne eines fernen
Pathos oder einer sentimentalen Vergangenheitsschwärmerei ist heute
für eine Idee namens Europa zweifellos kein Platz. Aber als ein systematisches
Konzept zum Beitrag einer weltpolitischen Ordnung braucht der Kontinent
eine Idee von sich selbst.
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