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Polis 1/ 2000 Zukunftstrends - ein Ruck muss durch die Politische Bildung gehenFanal für eine optimistische Zukunft Von Stefan Rappenglück und Jürgen Turek Die dichter werdende weltwirtschaftliche Verflechtung im Zuge der Globalisierung und das Ineinandergreifen von vielen technischen Basisinnovationen führen zu einer radikalen Veränderung der uns bekannten Gesellschaftswelt mit allen Konsequenzen für das gewohnte soziale Miteinander. Besonders die Konvergenz moderner Kommunikationsmittel (Multimedia), die Digitalisierung der Information sowie bahnbrechende Durchbrüche in der Bio- und Gentechnologie stellen zentrale Herausforderungen für die Gesellschaften der Zukunft dar. Auf dem Weltgipfel zur Umwelt in Rio de Janeiro wurde 1992 die Agenda 21 mit Leitgedanken und Handlungsanweisungen zu nahezu allen wesentlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen als Richtschnur für nachhaltiges Handeln im 21. Jahrhundert verabschiedet. Kern der Debatte um die "Nachhaltigkeit" gegenwärtiger Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsformen ist die Fürsorgepflicht für zukünftige Generationen im Sinne einer "intergenerationellen Gerechtigkeit" . Angesichts der Geschwindigkeit und Komplexität des sozio-ökonomischen und technologischen Wandels beides Markenzeichen der Globalisierung - stellt sich heute die Frage, wie wirklich Nachhaltigkeit in einer sich dramatisch ändernden Welt erzielt werden kann. Geographische Distanzen verlieren zunehmend ihre trennende Wirkung. Mit atemberaubender Geschwindigkeit entsteht der Entwurf einer vernetzten Gesellschaftswelt. Im Zeitalter der Globalisierung wird die ordnende und identitätsstiftende Kraft des Nationalstaates und der Nationalökonomie schwächer. Reichweite und Geschwindigkeit des Wandels fordern die Anpassungsfähigkeit staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Akteure heraus. Die zentralen Ressourcen sind in Zukunft nicht mehr Eisen und Stahl, nicht Elektrizität oder Chemie; auch Markt und Hierarchie werden sich prägnant ändern. Wissen und Kommunikation, transnationale Netze und dezentrale Produktion werden somit das Wirtschaftsleben prägen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die Sozialstruktur der Informations- und Wissensgesellschaft. Der Übergang von der Industriegesellschaft zu einer durch Wissen und Kommunikation geprägten Lebenswelt läßt sich mit dem Übergang von der agrarisch geprägten Gesellschaft in die Industriegesellschaft vergleichen. Untersuchungen zeigen, dass zukünftig der Anteil der industriellen Produktion innerhalb der Sozialstruktur auf etwa 20 Prozent zu Gunsten der Wissensgesellschaft zurückgehen wird. Hinzu kommt, dass das Bevölkerungswachstum als auch die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit steigen - mit unverkennbaren Folgen für die Organisation des kompliziert miteinander verflochtenen Fürsorge- und Wohlfahrtssystems. Nach Berechnungen des amerikanischen Worldwatch Institute kommen zum Beispiel in vielen Industriegesellschaften derzeit fünf Erwerbstätige auf einen Rentner; nach der vorliegenden Prognose wird sich dieses Verhältnis auf 3:1 im Jahre 2030 reduzieren. Der demographische Wandel stellt so in äußerst beunruhigender Weise bisher bewährte Modelle sozialer Fürsorge und intergenerationeller Solidarität zur Disposition. Das Streben von immer mehr Menschen nach höheren Lebensstandards und die Herausforderung, für eine wachsende Zahl von Menschen, genügend Nahrungsmittel ökologisch verträglich herzustellen und eine angemessene medizinische Betreuung zu ermöglichen, werfen darüber hinaus endgültig und unausweichlich die Fragen nach Wachstums - und Nachhaltigkeitsgrenzen auf. Im Zuge des technologisch-kulturellen Wandels überschreiten immer mehr Menschen kulturelle Grenzen. Die weltweite Migration und eine explosionsartige Zunahme des multimedialen Kontakts führt zu einer zunehmenden Auseinandersetzung um konkurrierende Kulturkonzepte und erfordert um so mehr verstärkte Anstrengungen der Akkulturation. Für die gemeinsame Zukunft ist es unerläßlich, auf eine interkulturelle Identität der Menschen hinzuarbeiten, die eine kognitive, affektive und verhaltensbedingte Flexibilität kennt, um sich an "Fremdes" anzugleichen, Konflikte aufzufangen, abzufedern und schließlich Xenophobie oder Konfrontationen zu vermeiden. Lernen, Erziehung und BildungNachhaltigkeit ist zwar als weltweit gültiges Ordnungsprinzip prinzipiell anerkannt, seine Anwendung reduziert sich jedoch oftmals zum formalen Lippenbekenntnis. Im ökonomischen Bereich etwa fällt auf, dass das neoklassische Wirtschaftsmodell weder Natur- noch Gesellschaftsschranken kennt. Ökonomisches Verhalten zielt auf die Maximierung des wirtschaftlichen Ertrags und klammert die Bio- wie die Sozialsphäre als Kostenfaktor aus. So stellt sich in zentraler Weise die Frage, wie sich individuelles, über Gruppen hinausgehendes oder intergenerationelles Verhalten im Sinne nachhaltiger Lösungen ändern läßt. Neben effizienter Technologie erschließen ein innovatives Steuern der politischen Systeme wie eine Veränderung individueller Verhaltensweisen die Potentiale zur Nachhaltigkeit. Neben die Möglichkeit technologischer Innovation tritt deshalb die Notwendigkeit des sozialen Lernens. Die hohe Komplexität unserer sozialen und natürlichen Umwelt erfordert neue Konzepte für zeitgerechtes Lernen zu entwickeln. Nach der Erziehungswissenschaftlerin Annette Scheunpflug müssen diese an der spezifischen Eigenart menschlichen Denkens und Problemlösens ansetzen, die veränderten Anforderungen häufig nicht gerecht werden. Menschengehirne suchen oft nach einfachen, eigennützigen Lösungsmustern und wollen rasche Lösungsvorschläge. Solche Denkreflexe taugen heute und in Zukunft nur noch zum Teil. Sie sind umso ungeeigneter, je komplexer und zeitlich wie geografisch- weitreichender das Gefüge aus Wirkungen und Folgewirkungen ist. Und dies ist heute immer mehr der Fall: Die Globalisierung und Technisierung vieler Lebenssachverhalte bläht diese Komplexität des alltäglichen Lebens immer weiter auf. Ein Menschengehirn denkt aber nicht automatisch global, sondern sucht vor allem Anschaulichkeit. Was außerhalb dieser Anschaulichkeit liegt empfinden Menschen als unbegreiflich und abstrakt- ob Elementarteilchen, Lichtgeschwindigkeit, das Internet oder die Komplexität naturwissenschaftlicher Wirkungsketten. Doch der Mensch ist seinen angeborenen Neigungen nicht hilflos ausgeliefert, weil er lernen kann. Die Alltagserfahrung zeigt nach Scheunpflug, dass ausgesprochene Problemlöser eine andere Herangehensweise an Probleme haben als der Durchschnitt der Menschen. Sie denken in Optionen, wägen unterschiedliche Konsequenzen ab, verfügen weniger über Fach- als vielmehr über breites Allgemeinwissen und über das Denk-Instrumentarium für Abstraktes. Soziales Lernen kann und sollte im Kindesalter eingeführt werden. In Zukunft sollte es zur bildungspolitischen Präambel werden, stärker in abstraktes Denken einzuführen und dies zu trainieren. Dies erfordert eine konkrete didaktische Konzeption, welche auch die Notwendigkeit sozialen und politischen Wissens stärker berücksichtigen muß: Schüler müssen zunehmend in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen denken. Hier können computergestützte Simulationsspiele wie das von dem Münchner Biochemiker Frederic Vester entwickelte "Ökopoly" komplexe Vernetzungen und Rückkoppelungseffekte begreifbar und aufgrund ihrer Anlage "anschaulich" machen. Andere Methoden bieten die Planspieltechnik oder das Rollenspiel. Darüber hinaus bietet es sich an, dass Lehrer von Schülern lernen: warum installieren und konfigurieren nicht allerorten pfiffige Schüler Software und Hardware-Peripherie, um sich selbst und das Lehrpersonal in die Bedienung der Apparaturen einzuführen? Neben einer neuen Lernkonzeption und Didaktik des 21. Jahrhunderts treten neue Erfordernisse für Erziehung und Bildung auf. Erziehung und Bildung sind der Schlüssel für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen. Ohne sie sind heranwachsende Menschen der Ohnmacht vor einer immer komplexeren, unverständlicheren Welt ausgeliefert. Ähnlich wie viele andere Didaktiker weist etwa Jost Stollmann darauf hin, dass dies zunächst einen Paradigmenwechsel im Bewußtsein und Denken erfordert. Das Bild des Lehrenden und der Wert der Bildung muss in einer Gesellschaft oben auf der Werteskala stehen. Die Wissens- und Informationsgesellschaft hat Konsequenzen für Lehrpläne und Ausstattung von Bildungseinrichtungen. Die Politik sollte einen privaten und gemeinnützigen Bildungssektor als Ergänzung des öffentlichen stärker fördern. Das Bild eines isolierten oder fachspezifisch fragmentierten Bildungssektors mus sich ändern in Richtung eines Dreh- und Angelpunktes gemeinsamen Lernens. Damit wendet die Schule auf sich an, was sie antreten muß zu lehren: lebenslanges Lernen als Person und Organisation. Zukunftstrends und politische BildungEntgegen der Unkenrufe einer nicht mehr notwendigen politischen Bildung angesichts einer aufgeklärten Mediengesellschaft, einer stabilen demokratischen Kultur und eines Angebots- und Teilnehmerrückgangs, bedarf es auch einer verstärkten politischen Bildung. Denn die Zukunftsgesellschaften stehen vor einem gewaltigen internen Tansformationsprozess. Dieser wird subjektiv unterschiedlich eher als Herausforderung oder eher als Chance wahrgenommen. Die Herausforderungen lassen sich mit den anschaulichen Bildentwürfen der Risikogesellschaft, der Orientierung zerstörenden, multi-optionalen Gesellschaft oder der desintegrierenden Gesellschaft charakterisieren. Wenngleich auch andere Gesellschaftsentwürfe die positive Ausstrahlung globalen Wandels als auch technologischer Innovationskraft favorisieren, sind heraufziehende Probleme unverkennbar. An Aufgaben politischer Bildung, wie kritische Auseinandersetzung, rationale Aufklärung und Deutung sowie der Suche nach Lösungen für Schlüsselfragen besteht daher kein Mangel. Es gilt im Zuge der Verantwortung für die nachwachsende Generation
das jetzige politische System nachhaltig zu gestalten. Politische Bildung
initiiert eine zukunftsorientierte Selbsteinwirkung der Gesellschaft auf
sich selbst und bildet so eine Investition in die Humanressourcen einer
Gesellschaft. Sie hat die Pflicht, den institutionellen Wandel zu verdeutlichen,
entstehende politische Defizite zu identifizieren und muß auch neue
politische Regelungsimpulse formulieren dürfen. Ein neues Konzept
politischer Bildungsarbeit kann somit den sozio-ökonomischen Wandel
sinnvoll flankieren und avanciert damit zum Orientierungsdienstleister
wie Datennavigator in einer politisch unüberschaubar gewordenen Welt.
Sie hat sich darüber hinaus als Kommunikator zwischen staatlichen,
nichtstaatlichen und wirtschaftlichen Akteuren zu verstehen, deren politisches
Gewicht in der Zivilgesellschaft zunehmend steigen wird. Nachhaltigkeit bezeichnet den Kernbereich der politischen Bildung im Epochenwechsel. Die Wissensgesellschaft stellt gesteigerte Anforderungen an das pädagogische Personal, die internationale und interdisziplinäre Ausrichtung der Angebote, die Methodenauswahl und verstärken die Einmischungs- und Handlungsnotwendigkeit der Bildungsarbeit. Das Schlagwort "Global denken lokal handeln" gehört zu den prägnantesten Chiffren einer bewußten Auseinandersetzung mit unserer zukünftigen Gesellschaftswelt. Das Bewußtsein für globale Zusammenhänge, die gerechtere Nutzung von Ressourcen sowie die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft der Welt muss in den Mittelpunkt politischer Bildung rücken. |