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Frankfurter
Rundschau, 8. Dezember 1999
Das Ende der Unverbindlichkeit -
Demokratisches Regieren in der großen EU
Von Josef
Janning
Lange lag die Stärke der europäischen Idee in der institutionellen
Schwäche Europas. Die Frage, auf welches Ziel hin sich die Entwicklung
der Europäischen Union bewegen sollte, blieb bewußt offen:
Niemand sollte an der Mitwirkung durch eine allzu große Verbindlichkeit
der Zukunft gehindert werden. In einem Europa im XXL-Format verkehrt sich
diese Weisheit in ihr Gegenteil - ohne Leitbild, ohne effektives Regierungssystem
und ohne demokratische Balance wird die EU an ihrer Größe scheitern.
Im Jahr 2020 kann die EU 35 Mitglieder haben - so viele wie die KSZE zum
Zeitpunkt ihrer Gründung. Sie wird dann aus den heutigen 15 Staaten,
Zypern und Malta wie den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas bestehen.
Im Rahmen der verschiedenen Erweiterungsrunden werden auch die Schweiz,
Norwegen und Island beigetreten sein. Den Erfolg europäischer Interventionspolitik
vorausgesetzt werden auch die Staaten des früheren Jugoslawien und
Albanien dazu gehören.
Die Heterogenität der Entwicklungsstände und die Vielfalt der
Interessenlagen dieses großen Europa kann das heutige politische
System der EU politisch nicht verarbeiten. Schon heute funktionieren die
Agrar- und Strukturpolitik der EU, die den größten Teil des
gemeinsamen Budgets verzehren, nicht mehr - allseitiger Nutzen in Verteilungsfragen
setzt ein nur moderates Entwicklungsgefälle voraus.
Auch die Entscheidungsmechanismen sind längst überstrapaziert.
Interessenkonflikte lassen sich mit steigender Zahl der Entscheidungsakteure
immer weniger einstimmig regeln.
Mehrheitsentscheidungen nach dem heutigen Muster helfen da kaum weiter:
Sie setzen die Zustimmung von mehr als 70 Prozent der gewichteten Stimmen
voraus, das Quorum liegt also über dem für Verfassungsänderungen
in den meisten Demokratien. Die Stimmgewichtung selbst kann in der großen
EU nicht unverändert bleiben - die Balance zwischen der Gleichheit
der Staaten als souveräne Akteure der internationalen Politik einerseits
und dem enormen Machtgefälle unter ihnen ist schon in den Erweiterungen
auf sechs auf 15 Staaten verloren gegangen. Wenn sich Minderheiten und
handlungsschwache Akteure am Mehrheitsprinzip reiben, hilft kluge Politik
weiter, wenn jedoch die größten und mächtigsten Teile
in einem politischen System den Mehrheitsregeln misstrauen, weil es sie
in die Minderheit drängt, dann kollabiert das Ganze.
Dass die Europäische Kommission keinen Wasserkopf der Kommissare
aufweisen darf, haben die Regierungen schon erkannt und Korrekturklauseln
eingebaut; wie sie aber künftig politisch zu legitimieren und zu
führen wäre, bleibt im Dunkel.
Noch haben die Europapolitiker die Gefahr für das Straßburger
Parlament nicht begriffen. Das EP wird in den Erweiterungen zu einem "Obersten
Sowjet" mit über 1000 Abgeordneten werden, wenn das Prinzip der Zusammensetzung
nicht reformiert wird. Es wird in einer Reihe mit der chinesischen Volksversammlung
stehen statt mit dem amerikanischen Kongress - von Bürgernähe
keine Spur.
Ebensowenig werden die Details des Brüsseler Alltags Medien wie Bürger
zufrieden stellen: Riesige Ministerräte, die sich wechselseitig lahmlegen,
wenn jede Entscheidung auf komplizierten Paketlösungen beruht, gewaltige
Versammlungssäle, deren Ausdehnung schon durch Anzahl der erforderlichen
Dolmetscherkabinen bestimmt wird, endlose Tischumfragen zur Meinungsbildung
unter den Regierungen, wo zwar längst alles gesagt ist, nur noch
nicht von jedem.
Das zentrale Problem des großen Europa ist also nicht die Bestimmtheit
seiner politischen Ordnung, sondern deren Unverbindlichkeit. Das Zusammenwirken
der Staaten als das wesentliche Steuerungs- und Entwicklungsinstrument
hat bisher Erstaunliches zustande gebracht - das Beharren auf diesem Prinzip
wird die historische Leistung zerstören. Europa braucht eine politische
Form, die die Integration konstitutionell sichert; die große EU
wird nur als Staat erfolgreich sein, ob dessen konventionell definierten
Voraussetzungen nun gegeben sind oder nicht. Dazu wäre erforderlich,
die heute noch systembestimmenden Vorbehalte durch Garantien und Schranken,
durch Verfahren und Kontrollen abzulösen.
Das Regierungssystem der großen Europäischen Union erfordert
"checks and balances" in drei Bereichen: eine Balance in der Arbeitsteilung
zwischen europäischer und nationaler (künftig auch regionaler)
Ebene, eine auch formal bestimmte Legitimation europäischer Entscheidungen
durch Transparenz und demokratische Kontrolle sowie ein Ausgleich zwischen
den Prinzipien der Effizienz einerseits und Subsidiarität wie Demokratie
andererseits.
Ein wesentliches Hindernis für den heutigen Integrationsprozeß
ist die wildwüchsige zentripetale Dynamik der europäischen Politik.
In den ersten Jahrzehnten politisch erwünscht und als "spill-over"
auch theoretisch plausibel, hemmt sie heute funktionale Integration -
so beschränkt sich die Zuständigkeit der Kommission paradoxerweise
noch immer auf den Warenhandel, da die Regierungen den Wachstumssektor
der Dienstleistungen nicht der Brüsseler Zuständigkeit zuweisen
wollen. Dieses Mißtrauen lähmt.
Zudem führen frühere Kompetenzübertragungen auf die europäische
Ebene, die sich als wenig nützlich erweisen haben, dazu, die Bündelung
von Zuständigkeiten dort vorzunehmen, wo sie sinnvoll wären.
Der heutige Kompetenzbereich der EU ist nach keiner Systematik erklärbar,
sondern nur als historischer Prozess zu begreifen. Das große Europa
benötigt deshalb eine Abgrenzung der Zuständigkeiten, die den
Gestaltungsbereich der EU systematisch bestimmt (und sachfremde Kompetenzübertragungen
rückgängig macht). Eine Aufzählung der Zuständigkeiten
schafft zugleich Transparenz und erleichtert die Eingrenzung des Bereichs
der konkurrierenden Gesetzgebung. An die Stelle der Kompetenzübertragung
durch einstimmige Entscheidung träte ein Kompetenzzuweisungsverfahren.
Diese Reform würde auch die Rolle des Europäischen Gerichtshofs
verändern: Statt hauptsächlich Instrument der "Integrationsfortbildung"
zu sein würde er auch zu einer Instanz der Bestandssicherung der
Mitgliedstaaten. Was der Kompetenzkatalog für die Staaten der EU
sein wird, wäre ein Grundrechtskatalog für die Bürger Europas:
die verbindliche Zusicherung, dass die Grenzen der Unionstätigkeit
in den Freiheitsrechten der Bürger liegen.
Im Entscheidungssystem des großen Europa spielt die Balance von
föderalem und von demokratischem Prinzip eine besondere Rolle. In
westlichen Demokratien wird sie in der Regel über parlamentarische
Zwei-Kammer-Systeme erreicht, in der die eine Kammer den Mehrheitswillen
der Bevölkerung, die andere die exekutiven oder die gesamtstaatlichen
Interessen repräsentiert. Die heutige EU bewegt sich bereits in diese
Richtung - das Europäische Parlament hat sich seit der ersten Direktwahl
1979 von einem Parlament der Völker zu einem Parlament der Bürger
entwickelt und der Ministerrat verantwortet bereits rund 80% der legislativen
Entscheidungen. Entsprechend könnten künftig alle Entscheidungen
im Zuständigkeitsbereich der EU in beiden Kammern mehrheitlich getroffen
werden.
Das Europäische Parlament benötigt eine verstärkte Legitimation
zur wirksamen Wahrnehmung seiner Legislativ- und Kontrollaufgaben. Für
die europäische Ebene kann auf Dauer kein geringerer Anspruch gelten
als für die Parlamente der Mitgliedstaaten: Dazu gehört die
Gleichheit der Stimme (mit einer Mindestsitzzahl für sehr kleine
Mitgliedstaaten). Wenn das Parlament gleichzeitig seinen Charakter als
"Arbeitsparlament" wahren möchte, sind große Wahlkreise in
der gesamten EU die Folge, die etwa der Größe der deutschen
Wahlkreise zur Europawahl entsprechen.
Neue Formen der Bindung von Wählern und Parlamentariern werden erforderlich
- insgesamt erzeugt das Mehrheitswahlrecht eine größere Personalisierung
dieser Bindung. Um seine Verantwortung zu stärken, sollte das Europäische
Parlament - wie jedes andere demokratische Parlament - über ein Budgetrecht
verfügen. Gleichzeitig könnte es politischer Träger der
Kommission als europäischer Exekutive sein: Der Präsident der
Kommission würde aus der Mitte des Parlaments gewählt und bedürfte
wie die von ihm gebildete Kommission der Zustimmung von Parlament und
Rat.
Beide Kammern sollten zudem das Initiativrecht besitzen. Was früher
als Monopol der Kommission für die Entwicklung supranationaler Integration
nötig schien, behindert die Weiterentwicklung in der Zukunft: Solange
Initiativen nur aus der Kommission hervorgehen, muss jeder Mitgliedstaat
in ihrer Spitze vertreten sein und das Proporzkalkül wird auch im
europäischen Beamtenapparat weiterbestehen - beides in der Tendenz
zulasten der Qualität.
Es ist nicht leicht zu sehen, wie die europäische Politik den Weg
zu diesem Regierungssystem finden wird. Die Regierungskonferenz des Jahres
2000 wird einmal mehr die Zähigkeit der Besitzstände und den
Unwillen der Politik belegen, Entscheidungen auf die Zukunft hin zu treffen.
Es ist aber auch nicht zu sehen, wie die Europäische Union ohne ein
solches Regierungssystem die Verdopplung ihrer Mitglieder überleben
könnte. Gewiss wird künftig ein größeres Maß
an Differenzierung Europa bestimmen; auf die Währung könnte
als nächstes Projekt der differenzierten Integration die Verteidigung
folgen. Umso mehr sollte der allen gemeinsame Bestand der EU, der Binnenmarkt
und die Rechtsgemeinschaft, dem Grundprinzip folgen: Je größer,
desto einfacher - je komplexer, desto verständlicher.
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