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Frankfurter
Rundschau vom 8. November 1999
Innere Einheit - wozu?
Ein Memorandum der Forschungsgruppe Deutschland
Die Ostdeutschen seien enttäuscht, nicht im "Paradies der Demokratie"
aufgewacht zu sein, so charakterisierte Joachim Gauck kürzlich die Bewußtseinslage
seiner Landsleute. Auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer prägt die scheinbar
unendliche Debatte um den Stand, den Fort- bzw. Rückschritt der "inneren
Einheit" die Diskussion im vereinten Deutschland. Noch 1990 verkündete
Willy Brandt voller Optimismus: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."
Nur zwei Jahre später kamen jedoch schon die skeptischen Nachfragen: "Wird
sich jetzt fremd, was zusammengehört?" (Allensbacher Institut für Demoskopie).
Die Frage nach dem "wie gleich oder wie unterschiedlich sind die Deutschen?"
führt allerdings nicht weiter. Es bestehen Mentalitätsunterschiede zwischen
alten und neuen Bundesländern, aber genauso innerhalb der alten und neuen
Länder. Erstere werden dauernd problematisiert und emotional diskutiert,
letztere sind im Rahmen einer pluralistischen Demokratie allgemein akzeptiert.
Darüber gerät fast in Vergessenheit, daß auch unzweifelhaft viele ost-
und westdeutsche Gemeinsamkeiten existieren, allen voran im Bereich der
persönlichen Wertorientierungen, aber auch auf dem Gebiet der politischen
Grundüberzeugungen, der tagesaktuellen Meinungen sowie bei der Bewertung
der Wichtigkeit politischer Probleme.
Worin liegt also dennoch die Relevanz politisch-kultureller Unterschiede
zwischen Ost und West? Es ist die Frage nach den Folgen dieser Differenzen
für das politische System, die den Kern der Problematik trifft. Der neuralgische
Punkt ist das diffizile Verhältnis eines Großteils der Ostdeutschen zur
politischen Ordnung der Bundesrepublik, aber auch zur politischen Gemeinschaft
der Bundesbürger. Drei Dimensionen der Differenzen zwischen den Deutschen
rücken in dieser Perspektive in den Blick: Demokratie, Freiheit versus
Gleichheit und Identität.
Unterschiede
In den neuen Ländern ist zwar eine hohe Zustimmung zu den Prinzipien einer
liberal-pluralistischen Demokratie vorhanden, so daß hier keine signifikanten
Ost-West-Unterschiede bestehen. Doch zu der konkreten Ausprägung der Demokratie
im politischen System der Bundesrepublik Deutschland wächst bei den Ostdeutschen
die Distanz. Zwar war in Westdeutschland ebenfalls eine rückläufige Entwicklung
festzustellen, doch hat sich diese wieder stabilisiert. In den neuen Ländern
hält der Negativtrend, der von einem deutlich niedrigeren Niveau ausgegangen
war, an. Während die große Mehrheit der Westdeutschen (70%) die Demokratie,
so wie sie in der Bundesrepublik existiert, für die beste Staatsform hält,
meint dies nur eine Minderheit der Ostdeutschen (29%). Nach ALLBUS-Daten
waren 1991 noch 61,9% der neuen Bundesbürger zufrieden mit der Demokratie,
1998 nur noch 53,4%. Die Demokratiezufriedenheit der Westdeutschen ging
danach im selben Zeitraum von 82,4% auf 74,2% zurück. In beiden Teilen
Deutschlands, vor allem aber im Osten, zeigt sich zudem eine immer stärkere
Abkehr vom repräsentativen Demokratiemodell. Direkte Partizipationsformen
(Volksentscheide, Demonstrationen und Unterschriftensammlungen) genießen
weit höhere Wertschätzung als die klassischen politischen Beteiligungsarten
wie etwa die Mitarbeit in einer Partei.
Erhebliche Differenzen bestehen auch im Bereich der politischen Wertorientierungen
- vor allem im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit. Die Ostdeutschen
betonen viel stärker als ihre westlichen Mitbürger Ziele der Gleichheit
und der sozialen Gerechtigkeit, halten im Gegenzug individuelle Freiheitsrechte
für deutlich weniger wichtig. Selbst eine durch das Leistungsprinzip legitimierte
soziale Ungleichheit wird mehrheitlich abgelehnt, nicht nur Chancengleichheit,
sondern auch Gleichheit in den Ergebnissen wird von den neuen Bundesbürgern
angestrebt. Eng damit hängt zusammen, daß die soziale Marktwirtschaft,
die mit einem großen Vertrauensvorschuß in den neuen Bundesländern gestartet
war, dort gegenüber der sozialistischen Planwirtschaft fast in jeder Beziehung
Punkte verliert. Vor allem erscheint den Ostdeutschen die Planwirtschaft
als das "menschlichere" System, das zudem besser dazu in der Lage ist,
die von ihnen so hoch geschätzte soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Schließlich prägen Differenzen im Bereich der Identifikation mit der politischen
Gemeinschaft das Ost-West-Verhältnis. Faßt man den demoskopischen Datenbestand
knapp zusammen, fühlen sich die Ostdeutschen mehr als "ostdeutsche Bürger
zweiter Klasse" denn als Bundesbürger. Etwa 70% der Westdeutschen, aber
nur ungefähr die Hälfte der Ostdeutschen fühlen sich als Bürger der Bundesrepublik.
Wichtiger ist: Der Rekurs auf ein ostdeutsches Wir-Gefühl geht einher
mit einer Distanzierung von der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik.
Nur das westdeutsche Wir-Gefühl ergänzt sich positiv mit dem Bewußtsein
als Bundesbürger. Ganz anders hingegen das Bild auf ostdeutscher Seite:
Nur schwer läßt sich die Identifikation als Ostdeutscher mit der als Bundesbürger
vereinen. Zudem ergibt sich hier ein aufschlußreicher Zusammenhang: Diejenigen,
die sich als "ostdeutsche Bürger zweiter Klasse" fühlen, sind unzufriedener
mit der Demokratie der Bundesrepublik.
Erklärungen
Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? In der wissenschaftlichen
Diskussion konkurrieren zwei Ansätze: Die Sozialisationshypothese betont
die politisch-kulturelle Wertekontinuität der Ostdeutschen, welche die
Systemtransformation überstanden hat und auf mittlere und längere Sicht
weiterhin Bestand haben wird. In dieser Perspektive handelt es sich um
Gegensätze entlang der normativen Konfliktlinie zwischen freiheitlich-liberaler
und sozialistischer Gesellschaftsordnung. Die Situationshypothese stellt
demgegenüber Einflußfaktoren in den Mittelpunkt, die aus den Erfahrungen
des Umbruchs 1989 und des danach einsetzenden Transformationsprozesses
in Ostdeutschland resultieren. Einstellungsunterschiede zwischen den Deutschen
in Ost und West sind demnach situativ bedingt und können sich unter Umständen
kurzfristig mit den Rahmenbedingungen verändern. Zu einem Teil können
die skizzierten Unterschiede tatsächlich mit der individuelle Betroffenheit
durch Arbeitslosigkeit erklärt werden: Arbeitslose betonen stärker soziale,
weniger liberale Werte - nicht nur im Osten, sondern auch im Westen.
Doch eine scharfe Gegenüberstellung dieser Erklärungsangebote wäre künstlich,
vielmehr sind sie komplementär zu betrachten. Es vermischen sich die spezifischen
sozialisatorischen Prägungen der DDR-Zeit mit den situativen Erfahrungen
des problembelasteten Einigungsprozesses.
Unterschiedliche Ursachen - ähnliche Folgen?
Welche Folgen haben nun diese Einstellungen für das politische System
der Bundesrepublik Deutschland? Zentrale Annahme der politischen Kulturforschung
ist es, daß das Fortbestehen eines demokratischen Gemeinwesens maßgeblich
von den subjektiven Voraussetzungen abhängt. Es muß also einen gewissen
Grad an Übereinstimmung zwischen der politischen Struktur und der politischen
Kultur bestehen. Wenn sich die politische Kultur grundlegend verändert,
so ist möglicherweise eine Anpassung des demokratischen Systems gefordert.
In Ostdeutschland fehlt weitgehend das Legitimitätsreservoir affektiver
Bindungen an die politische Gemeinschaft und die politische Ordnung. Objektiv
vorhandene staatliche Leistungsdefizite schlagen daher stärker auf die
Systemunterstützung durch. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt,
daß die Erwartungen an den Staat als Leistungsträger in Ostdeutschland
gleichzeitig erheblich stärker ausgeprägt sind als in Westdeutschland.
Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, daß die Bürger in den neuen
Ländern die aus ihrer Sicht unzureichende Realisierung sozialer Ziele
nicht, wie die westlichen Bundesbürger, der aktuellen Politik zuschreiben,
sondern dem politischen System der Bundesrepublik. Intermediäre Organisationen
können aber im Osten keine systemstabilisierende Wirkung entfalten: Die
Bindung an Kirchen, Gewerkschaften und vor allem auch an Parteien ist
dort wesentlich geringer ausgebildet als im Westen. Einzig die PDS verfügt
über eine breite Stammwählerschicht, die mit langfristigen westdeutschen
Parteibindungen vergleichbar ist. Nur ist es gerade die SED-Nachfolgerin,
die mit ihrer Ausrichtung zwischen Ideologie, Ostidentität und Protest
ein distanziertes Verhältnis zum Wertesystem der Bundesrepublik pflegt.
Die anderen Parteien stehen im Osten entweder einer Massenabwanderung
ihrer Mitglieder gegenüber oder konnten, wie die SPD und Bündnis90/Die
Grünen, überhaupt keine Basis in den neuen Ländern aufbauen. Daher unterscheidet
sich nicht nur die Zusammensetzung und der Grad der Volatilität des Parteiensystems
in Ost und West, sondern auch die Art und Weise der Parteiarbeit: Das
traditionelle, westdeutsche Konzept der Mitgliederpartei wird dort ersetzt
durch Personalisierung, Mediatisierung und Professionalisierung.
Die zentralen, politisch-kulturellen Herausforderungen der inneren Einheit
richten sich also nicht so sehr an das politische System als Ganzes, sondern
vielmehr an die Parteiendemokratie. Dabei ist zu beachten: Die Vereinigung,
welche die Einstellungen der Ostdeutschen in das vereinte Deutschland
eingebracht hat, fiel nicht in eine Zeit der politisch-kulturellen Stabilität
Westdeutschlands. Auch hier waren weitreichende Veränderungsprozesse im
Gang, die völlig andere Ursachen haben als die Einstellungslandschaft
im Osten, aber ähnliche Phänomene zeitigten. Auch in Westdeutschland steigt
der Wunsch nach Geborgenheit in ökonomisch unsicheren Zeiten. Pluralisierung
der Lebensstile und Individualisierung atomisieren gesellschaftliche Strukturen.
Sicherheitsbedarf als neue Sehnsucht nach Übersichtlichkeit nimmt zu.
Der Wertewandel brachte zugleich kritische und anspruchsvolle Bürger hervor
mit neuen Anforderungen an politische Partizipationsformen. Das Politikverständnis
der Deutschen ist nicht mehr primär institutionenbezogen zu verstehen,
sondern erweist sich als punktuell, situativ, kontextabhängig, erlebnis-,
kampagnen- und betroffenheitsorientiert. Auch in den alten Ländern ist
eine Abnahme der Bindungsfähigkeit von Großorganisationen, vor allem auch
der Parteien, festzustellen: Rückgang der Mitgliedschaften, Abnahme der
Stammwähler, Zunahme der Wechselwähler, sind die wichtigen Stichworte.
Der Wähler wird wählerischer. Er reagiert sehr viel unmittelbarer auf
die Politik der Parteien, belohnt ihre Leistungen, sanktioniert ihr Versagen.
Die Parteien sind dabei jedoch Gefangene zahlreicher Ambivalenzen. Altes
und Neues steht lose verkoppelt nebeneinander. Was für einen erfolgreichen
Medienwahlkampf erforderlich sein mag, kann sich für die Legitimität der
Politik als Bumerang entpuppen. Der inhaltsleere, völlig personalisierte
Bundestagswahlkampf 1998 und die Probleme der rot-grünen Regierung 1999
bei der Umsetzung ihres Regierungsprogramms liefern hierfür ein anschauliches
Beispiel. Einerseits erweisen sich die Parteien als unzeitgemäße Großorganisationen,
die dem Partizipationsverhalten der Menschen nicht mehr entsprechen, andererseits
ist die Organisation als Mitgliederpartei eine ihrer zentralen Legitimationsquellen.
Auch das Wahlverhalten illustriert die Dilemmata der Parteien: Einerseits
prägen noch immer gesellschaftspolitische Konfliktlinien den Parteienwettbewerb,
andererseits nehmen die Parteibindungen ab, im Osten sind diese kaum vorhanden.
Infolge dessen steigt die Wechselhaftigkeit des Parteiensystems, sie liegt
in den neuen Ländern auf höchstem Niveau. Auch diese Erfahrung mußte die
SPD machen: Zwar setzte die Diskussion um die "Neue Mitte" und den "Dritten
Weg" neue politisch-kulturelle Impulse, doch mit einer einseitigen Ausrichtung
darauf gelingt es ihr nicht, Wahlen zu gewinnen - wie die Landtagswahlen
1999 zeigten. Sie muß jene Begriffe mit traditionellen Programmpunkten
verknüpfen. Nur mit der Mischung aus Modernisierung und Tradition, die
bei der Bundestagswahl 1998 durch das Duo Schröder/Lafontaine personifiziert
wurde, können die Sozialdemokraten erfolgreich sein.
Welche neuen Politikstile sind geeignet, das neue Partizipationsverhalten
zu befriedigen? Wie müssen die Parteien auf das neue politisch-kulturelle
Umfeld reagieren? Werden die ostdeutschen Parteistrukturen zu Trendsettern
auch für den Westen? Dies sind die entscheidenden Fragen, die der Diskussion
um die "innere Einheit" ihre Relevanz verleihen, doch viel zu selten werden
sie in diesem Kontext thematisiert.
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