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NZZ vom 2. November
1999
Bürgergesellschaft als Gegengewicht zum Staat
Politiker und Wissenschafter an einer Tagung in Berlin
Politiker und Wissenschafter an einer Tagung in Berlin Der Staat ist überfordert,
und Experten suchen nach einer Kur. Eine lebendige Bürgergesellschaft
wäre ein guter Anfang, doch wissen die deutschen Parteien nicht recht,
wie passive Bürger zum Nutzen des Gemeinwohls aktiviert werden können.
Eine Tagung des «Centrums für angewandte Politikforschung» hat die unbefriedigende
Lage analysiert.
hau. Berlin, im Oktober
In einer guten politischen Ordnung stehen rechtsstaatliche Sicherheit,
demokratische Selbstbestimmung und soziale Verpflichtung in einem ausgewogenen
Verhältnis zueinander. Diesem Ideal entsprechen immer weniger europäische
Länder. Denn die Bürger haben dem Staat zur Lösung zunehmend
komplizierter Probleme immer mehr Rechte abgetreten, was diesen letztlich
nicht stärker, wohl aber die Individuen verdrossen macht. Besonders
im sozialen Bereich zeigt sich der Staatsapparat überfordert. Überfällige
Reformen werden halbherzig begonnen oder verschoben. Wer darunter leidet,
zweifelt schnell am Staat in seiner heutigen Gestalt. Vor allem in Deutschland,
wo lange die Bereitschaft gross war, zugunsten obrigkeitlicher Fürsorge
auf gesellschaftliche Freiräume zu verzichten, versuchen deshalb
Wissenschafter und Politiker neue Antworten auf die Frage zu finden, wieviel
Staat sich die postindustrielle Gesellschaft leisten kann. So auch an
einem Kolloquium des in München beheimateten «Centrums für
angewandte Politikforschung», das unlängst in Berlin stattgefunden
hat.
Passivität der Bürger
Die Rolle des Staates als Sicherheitsgarant wurde nicht in Frage gestellt.
Unterschiedliche Antworten gab es auf die Frage, wie energisch der Staat
den sozialen Ausgleich betreiben sollte. Der frühere Karlsruher Verfassungsrichter
Ernst-Wolfgang Böckenförde hielt kontinuierliche, gemässigte
Eingriffe zugunsten der sozial Schwachen für notwendig, weil andernfalls
die Freiheitsrechte der Verfassung gefährdet würden. Der vor
seiner Emeritierung auch in Zürich lehrende Philosoph Hermann Lübbe
hielt wenig davon, da die Ungleichheit in der menschlichen Natur begründet
sei, was Böckenförde präzisieren liess, nicht materielle
Gleichheit, wohl aber Chancengleichheit sei anzustreben.
Dieses Vorgeplänkel verblasste, als die rund drei Dutzend Teilnehmer
den Gründen nachspürten, warum sich die Bürger so oft frustriert
von der Politik abwenden. Ein niederschmetterndes Bild entstand. Schon
die ständige Konsenssuche zwischen Interessengruppen und föderativen
Strukturen, gekoppelt mit parteipolitischem Schacher, schränkt den
Spielraum der Politiker ein. Er wird weiter reduziert, weil die Wirtschaft
zusehends global handelt, während Regierungen nur nationale Befugnisse
haben und in Bündnissen oder internationalen Organisationen lediglich
ein begrenztes Mitspracherecht beanspruchen können.
Der Bürger ignoriert dies, solange ihm keine Opfer abverlangt werden.
Er akzeptiert sogar die abstrakte Formulierung, Freiheit schliesse Verantwortung
mit ein. Kollidiert jedoch die Umsetzung in die Praxis mit dem dominierenden
Besitzstandsdenken, funktioniert die demokratische Rückkopplung plötzlich
nicht mehr. Der Bürger, so Werner Weidenfeld, Direktor des «Centrums»,
entzieht der Politik einfach den notwendigen Vertrauensvorschuss.
Viel Ratlosigkeit
Die Experten wissen seit langem, dass der deutsche Sozialstaat umgebaut
werden muss, und das Wort Reformstau soll schon ins Englische übernommen
worden sein. Für Wolfgang Nowak, Leiter des Planungsstabes im Bundeskanzleramt,
verwaltet der Staat inzwischen bloss noch den Mangel. Offenbar vermögen
die Parteien diesen Stau nicht aufzulösen. Ihre Ratlosigkeit diente
dem Parlamentarier Christoph Böhr, Vorsitzendem der CDU in Rheinland-Pfalz,
als Sprungbrett für eine provozierende These. Die Ausdehnung der
Sozialleistungen in den sechziger Jahren habe einer Infantilisierung Vorschub
geleistet, so dass jetzt jede Reform mit Nachteilen für Teile der
Bevölkerung auf energischen Widerstand stosse. Ein gerüttelt
Mass Schuld an dieser Entwicklung sieht Böckenförde bei den
Regierungen, die aus Angst vor Wahlniederlagen die harten Wahrheiten verschwiegen
hätten. Wer wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt den
unpopulären Nachrüstungsbeschluss der Nato durchsetzte, habe
den Mut zum Risiko mit dem Verlust des Rückhalts in der eigenen Partei
und später auch in der Bevölkerung bezahlen müssen.
Materielle Anreize als Lösung?
Wieviel Mut die Regierung Schröder beim Umbau des Sozialstaates aufbringen
wird, war kein Thema des Kolloquiums, bei dem parteipolitische Standpunkte
nur unterschwellig spürbar waren. Gefragt waren Rezepte für
Bewegung auf diesem Gebiet, für die Bürger mit Weitblick notwendig
sind. Bisher sind nach Nowak die existierenden Bürgerbewegungen leider
vornehmlich mit der Verhinderung von Projekten beschäftigt, statt
umgekehrt der Regierung bei unumgänglichen Reformen den Rücken
zu stärken. Wünschenswert sei neben der Öffnung des Staates
für private Anbieter und dem dadurch verstärkten Wettbewerb
ein auf seine wesentlichen Aufgaben reduzierter Öffentlicher Dienst.
Wie aber kann man die Bürger bewegen, nach vorn zu schauen und aktiv
zu werden? Ohne Anreize gehe es nicht, befand Böhr, und sah sie in
einer ökonomischen Nutzenerwartung, wie sie beispielsweise die Teilrückerstattung
von Versicherungsbeiträgen zeige. Die Haltung der Menschen verändere
sich durch solche Anreize zu vernünftigem Handeln. Sofort wurde Widerspruch
gegen vornehmlich materielle Anreize laut, ohne dass der Protest ideelle
Ansätze produziert hätte. Selbst der grünen Politikerin
Gunda Röstel fielen zur Belohnung für freiwilligen Einsatz in
Nachbarschaft oder Jugendarbeit bloss handfeste Vergünstigungen ein.
Sie machte das wett, indem sie von der politischen Elite vorbildliches
Handeln einforderte, das die Übernahme von Verantwortung für
fehlgeschlagene Projekte einschliesse. Was den Reformwillen der Bürger
anging, zeigte sie sich optimistischer als ihre Kollegen. Die Erfahrungen
mit der Abfalltrennung zeigten, dass vom Staat geschaffene «Verantwortungsräume»
zumindest teilweise angenommen würden.
Mit diesen Überlegungen war man beim Kern des Problems angekommen.
Ein Impulsreferat hatte die Vision einer Bürgergesellschaft vorgestellt,
in der sich wertkonservative, basisdemokratische und sozialreformerische
Elemente zukunftsträchtig mischen. Neben dem öffentlichen und
dem privaten Sektor sei Platz für gemeinnützige Organisationen
und Selbsthilfegruppen, in denen sich die im Wandel begriffene pluralistische
Gesellschaft verwirklichen könne. In diesem dritten Sektor stecke
der Freiraum für gesellschaftlich wichtige Aktivitäten, die
weder der Logik des Marktes noch der des Staates gehorchten. Das las sich
gut, doch blieb das verbale Echo dünn. Schlimmer noch, niemand konnte
sagen, wie das unumgängliche Fussvolk der Bürger zu mobilisieren
sei. Überhaupt wurde mehr Skepsis als Optimismus laut.
Vernunft statt Ethik
Der Hamburger Publizist Warnfried Dettling umriss mit wünschenswerter
Klarheit Aufgaben und Grenzen einer derartigen Bürgergesellschaft.
Wenn sich die Kommunen etwas einfallen liessen, könnten Arbeitslose
und Frühpensionäre sinnvolle Beschäftigung finden. Die
Krise der Arbeitsgesellschaft vermöge die Bürgergesellschaft
allerdings nicht zu lösen, auch wenn von ihr Impulse für die
Belebung der Demokratie zu erwarten seien. Weitgehende Einigkeit bestand
darüber, dass sich der Staat zur Förderung solcher Impulse aus
bestimmten Gebieten freiwillig zurückziehen muss. Bei der Diskussion
über verfassungsrechtliche Gewaltenteilung und die sie stützende
finanzielle Autonomie wurde mehrfach die Schweiz als Vorbild hingestellt.
Gerd Walter, Justizminister in Schleswig-Holstein, möchte der drohenden
Aufsplitterung der Gesellschaft durch die Schaffung vieler kleiner Inseln
von Bürgergesellschaften entgegenwirken. Solche «Handlungsarenen»
zur Einübung von Verantwortung sahen mehrere Teilnehmer vornehmlich
bei Schulen und Lehrern. Bei der auf diesem Sektor anvisierten Einschaltung
von Kommunen und Bürgern könnten Erfahrungen in den USA und
in skandinavischen Staaten nützliche Anregungen geben.
Die Debatten propagierten mehr Einfluss für den Bürger, doch
blieb der Staat nicht ohne Verteidiger. Eher schon die Regierung, der
nach der gewonnenen Wahl vor einem Jahr laut Weidenfeld die Definitionsmacht
unter den Händen zerronnen ist. Zurzeit werde zu oft nach der Logik
des Augenblicks entschieden, ein Zustand, der nicht andauern dürfe.
Unausgesprochen war das ein Appell an die Vernunft. Ob sie ausreicht,
um aus der Sackgasse von Ratlosigkeit und Zaudern herauszukommen, darf
bezweifelt werden. Um Regierungen und Bürger zu verantwortlichem
Handeln zu bewegen, bedarf es entweder einer lebensbedrohenden Gefahr
oder einer tragfähigen politischen Ethik. Die Krise aber scheint
wohl noch nicht tief genug, und bei dem Wort Gemeinwohl zucken viele nur
die Schultern.
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