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NZZ
vom 27. September 1999
Europa, die komplizierte Grossbaustelle
Bertelsmann-Stiftung und CAP weben ein Europa-Netzwerk
Die Bertelsmann
Wissenschaftsstiftung und das Centrum für angewandte Politikforschung
(CAP) haben mit der "Sommerakademie Europa" die Keimzelle für
ein neues europäisches Netzwerk geschaffen. An der erstmals durchgeführten
Veranstaltung haben sich junge europäische Führungskräfte mit der künftigen
Gestalt der EU auseinandergesetzt, die an Staaten und an Kompetenzen weiterwachsen
will.
bst. Europa ist noch lange nicht fertig gebaut. Die Europäische Union
gleicht heute einer komplizierten Grossbaustelle. Die Bereiche der gemeinsamen
europäischen Politik sollen ausgedehnt, die Union soll namentlich um östliche
Mitgliedstaaten erweitert, die Entscheidungsprozesse sollen reformiert
werden. Auf Initiative der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und des Centrums
für angewandte Politikforschung (CAP) in München haben sich vierzig jüngere
europäische Führungskräfte mit der Entwicklung der EU erstmals im Rahmen
der "Sommerakademie Europa" im oberbayrischen Kloster Seeon
auseinandergesetzt. Die Nachwuchskräfte, die dereinst vielleicht Schaltstellen
der europäischen Politik besetzen werden, haben in der Akademie während
einer Woche zusammen mit Referenten aus Wissenschaft und Politik eine
"Strategiedebatte" zur EU geführt, um einen Begriff des Initiators,
Werner Weidenfeld (Professor für Politikwissenschaft, Direktor des CAP
und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung), zu verwenden. Erklärtes
Ziel der "Sommerakademie Europa" ist es - sie soll jedes Jahr
eine Fortsetzung finden -, ein neues europäisches Netzwerk unter den Teilnehmern
zu weben.
Ratsentscheide beim Mittagessen
Als eine der Problemzonen umkreiste die Akademie die politische Entscheidungsfindung
der komplexen Grossorganisation EU - supranationales Gebilde, aber nicht
Vereinigte Staaten von Europa. Schon jetzt, mit 15 Mitgliedstaaten, stösst
die Union an Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Bei den heutigen Strukturen
- besonders wo Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten verlangt ist - müssen
in der Praxis oft Stimmen "hinzu erworben" werden. Die einzelnen
Staaten wissen das in ihr Kalkül einzubeziehen und Gesamtpakete durchzudrücken,
die durchaus auch der Befriedigung partikulärer Interessen dienen. Die
Entscheidungsprozesse in der EU seien mittlerweile so festgefahren, dass
Veränderungen kaum mehr möglich seien, stellte Christoph Heusgen vom Auswärtigen
Amt in Berlin fest. Wie Heusgen schilderte, verlagern sich die Entscheidungen
zusehends vom schwerfälligen (Minister-)Rat zum Mittagessen: Im informellen
kleinen Kreis kommt man weiter.
Ohne Reform würde die Schwerfälligkeit noch grösser, wenn weitere Mitgliedstaaten
der EU beitreten. Der nächste Expansionsschritt ist eine EU der 22 (mit
Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland, Zypern und Malta), ein
weiterer die EU der 27 (mit Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Litauen
und Lettland). Daneben gibt es zusätzliche potentielle Beitrittskandidaten
wie Norwegen und die Schweiz. Mit der Regierungskonferenz 2000 will die
EU ihre Institutionen reformieren. Ziel ist ein "Regierungssystem",
das selbst in einer "XXL EU", wie sie Josef Janning, Leiter
von Bertelsmann Forschungsgruppe Politik nannte, in einer EU mit einer
Maximalgrösse von 35 Mitgliedstaaten noch funktionstüchtig wäre.
Kernthema der Regierungskonferenz 2000 bildet das weitere Abrücken im
Ministerrat vom Einstimmigkeitsprinzip zu (qualifizierten) Mehrheitsentscheidungen.
Schon heute wird beklagt, die kleineren EU-Mitgliedstaaten seien im Verhältnis
zu ihrer Bevölkerungszahl zusehends "überrepräsentiert" und
könnten Sperrminoritäten bilden. Die Stimmengewichtung soll entsprechend
korrigiert werden. Die grossen Staaten erwarten dabei auch eine Gegenleistung
für ihren Verzicht auf den zweiten Kommissarposten, wie das ein anderer
Reformpunkt vorsieht. Für die neue Stimmengewichtung im Rat steht unter
anderem das Modell der doppelten Mehrheit zur Diskussion: Neben der bisherigen
qualifizierten Mehrheit gälte ein Beschluss nur als zustande gekommen,
wenn zusätzlich 60 Prozent der Einwohner der EU-Mitgliedstaaten repräsentiert
wären. Da erhebliche nationale machtpolitische Interessen - Rivalitäten
unter den grossen Staaten, Angst vor Statusverlust bei den kleineren -
tangiert werden, ist das Seilziehen um die Reform intensiv. Sie soll jedenfalls
vor der Osterweiterung unter Dach gebracht werden, damit die Dinge nicht
noch komplizierter werden. Der deutsche EU-Parlamentarier Elmar Brok forderte,
das Europäische Parlament dürfe keinen einzigen Erweiterungsvertrag ratifizieren,
solange die Frage der Mehrheitsentscheidung nicht geklärt sei.
Dem Demokratiedefizit der EU will man namentlich mit einer weiteren Stärkung
des Europäischen Parlaments beikommen. Der Kommission, die sich über die
Jahre zur politisch agierenden Exekutive entwickelt hat, soll eine wirksame
parlamentarische Gegengewalt zur Seite gestellt werden. Zur Diskussion
steht zudem eine gesamteuropäische Wahl des Kommissionspräsidenten. Michael
Kreile, Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität
Berlin, skizzierte verschiedene Strategien, wie die Legitimation der EU
fortentwickelt werden könnte. Als "goldenen Mittelweg" hob er
die Schaffung einer europäischen Verfassung heraus, mit einer Charta der
Grundrechte, einem Kompetenzkatalog (dafür ist die Union zuständig und
dafür sind es die Mitgliedstaaten), einem Ausbau des Europäischen Parlaments
und einem parlamentarischen Zweikammer-System.
Sicherheitspolitische Eigenständigkeit
Im Europa-akademischen Tour d'horizon wurden viele weitere Politikfelder
diskutiert, darunter die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik. Auf
dem Weg zu einer "European Defence Capability" will die EU mit
pragmatischen Schritten nationalstaatlicher militärischer Zusammenarbeit
vorankommen. Der Nato-Berater Julian Lindley- French (Centre for Defence
Studies, King's College London) umschrieb das Ziel der ersten Phase, die
bis 2015 erreicht werden soll, mit der griffigen Formel: Möglichkeit,
eine Operation wie die Intervention in Kosovo unabhängig von den Vereinigten
Staaten durchzuführen. Der türkische Professor Hüseyin Bagci (Middle East
Technical University Ankara) beklagte, dass die Türkei heute keinen Platz
in der europäischen Sicherheitspolitik habe. Die Türkei sei enttäuscht
und gekränkt über die Nicht-Dialog-Politik der EU ihr gegenüber.
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