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Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 7. August 1998
Einwanderungspolitik braucht Sachkunde und Spürgefühl
Eine europäische Antwort auf die Migration ist überfällig
Von Werner Weidenfeld
Zu den Ritualen deutscher Wahlkämpfe gehört es, rhetorischen
Lärm um Möglichkeiten, Ziele und Grenzen der Einwanderungspolitik
zu erzeugen. Nicht selten kommen dabei zwei Defizite zum Vorschein: mangelnde
Sensibilität gegenüber vielen Menschen, für die Einwanderung
die große humane Chance ihres Lebens bedeutet, und die irrige Annahme,
Einwanderungspolitik ließe sich heute noch allein mit nationalen
Regeln gestalten. Beide Defizite führen zu einem Maß an Unbehaglichkeit
im Umgang mit einem Thema, das wie kaum ein anderes Sachkunde und Spürgefühl
verlangt.
Obwohl der tiefgreifende Umbruch in Mittel- und Osteuropa die Lebensbedingungen
von knapp 500 Millionen Menschen erschüttert hat, ist das Menetekel
einer befürchteten Masseneinwanderung aus den Staaten östlich
der Europäischen Union bisher nicht Wirklichkeit geworden. Man kann
dies nicht zuletzt auf die intensiven Bemühungen der EU zurückführen,
die Staaten in ihrer Nachbarschaft durch politische und wirtschaftliche
Perspektiven zu stabilisieren und deren Transformationsbemühungen
zu unterstützen. Aus dieser Sicht läßt sich die Osterweiterungspolitik
der Union als bereits funktionierendes Element einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik
einordnen.
Darüber hinaus sind die Bemühungen um eine gemeinsame Migrationspolitik
aber in Europa hinter dem Notwendigen zurückgeblieben. Neben der
aus humanitären Gründen gebotenen Aufnahme von Asylbewerbern
und Flüchtlingen findet legale Einwanderung in den Mitgliedstaaten
vor allem durch Maßnahmen der Familienzusammenführung statt.
In den vergangenen Jahren haben die meisten EU-Staaten Maßnahmen
einer restriktiveren Zuwanderungspolitik erlassen - vor allem, um die
hohe Anzahl der Asylsuchenden bewältigen zu können. Zwar verweisen
sie dann zu Recht auf einen Rückgang der registrierten Zuwanderung.
Für eine Entwarnung besteht aber dennoch kein Anlaß. In Rußland,
der Ukraine, Rumänien, Bulgarien und Albanien warten Hunderttausende
auf eine Chance, nach Westen wandern zu können. Der Magnetismus des
EU-Stabilitätsraumes ist ungebrochen. Der zunehmende Wanderungsdruck
aus dem Norden Afrikas, vor allem aber die etwa 700.000 Flüchtlinge
der noch längst nicht befriedeten Krisenregion des ehemaligen Jugoslawiens
weisen eindrucksvoll darauf hin, daß die Zuwanderung nach Westeuropa
unter der Bedingung schwerwiegender Krisen unmittelbar und sprunghaft
ansteigen kann. Betrachtet man einige wesentliche Faktoren, die mit der
Zuwanderung in die EU zusammenhängen, dann muß fraglich erscheinen,
ob diese Problematik mit einem Mix vorwiegend reaktiver Maßnahmen
- zudem auf nationaler Ebene - mittelfristig noch adäquat bewältigt
werden kann.
Nach jahrelanger Verzögerung sind die meisten Grenzen innerhalb der
Europäischen Union endlich gefallen. Zwischen den Unterzeichnerstaaten
des Schengener Abkommens finden nun keine systematischen Personenkontrollen
mehr statt. Daß die vier sogenannten Grundfreiheiten des Binnenmarktes
damit nahezu vollständig umgesetzt sind, hat unter den Europäern
allerdings von Anfang an eher Furcht als Triumphgefühle ausgelöst:
Die mit der Grenzöffnung verbundene Debatte um zusätzliche Möglichkeiten
der Schleierfahndung suggeriert diffuse Bedrohungsgefühle. Nach dem
schändlichen Auftritt deutscher Randalierer bei der Fußball-Weltmeisterschaft
in Frankreich sind die Rufe nach Wiedereinführung der Grenzkontrollen
wieder laut geworden; und immer wieder wird in Zweifel gezogen, daß
die im Gegenzug vereinbarte strengere Kontrolle der Außengrenzen
überall tatsächlich stattfindet.
Der Abbau der Grenzkontrollen ist indes ein beredtes Beispiel dafür,
daß die europäische Integration heute längst weiter fortgeschritten
ist als dies vielfach wahrgenommen wird. Bei offenen Grenzen im Innern
betrifft die Zuwanderungspolitik jedes Landes auch alle anderen Staaten.
Grenzkontrollen nur für Migranten wären ebenso absurd wie undurchführbar.
Die sowohl geographisch determinierte als auch traditionell gewachsene
ungleiche Verteilung der Netto-Migration führt zu erheblichen Interessenunterschieden.
Trotz gewisser Annäherungen ist es aber bisher zu keiner gemeinsamen
EU-Zuwanderungspolitik gekommen. Auch taugliche Verfahren der Lastenteilung
konnten noch nicht etabliert werden. Die Kompensationsfähigkeit einzelner
Staaten wird dadurch im Ernstfall auf eine schwere Probe gestellt. Im
Effekt ist die nationale Handlungsfähigkeit spätestens mit der
Öffnung der Binnengrenzen verlorengegangen, ohne daß dies auf
europäischer Ebene durch gemeinsames Vorgehen im Bereich der Zuwanderungspolitik
kompensiert würde. Diese Situation wird sich vor dem Hintergrund
der absehbaren demographischen Entwicklung in der Europäischen Union
eher zuspitzen: In längerfristiger Perspektive wird der Zuwanderungsbedarf
in den meisten Ländern der Europäischen Union ansteigen. Die
niedrigen Geburtenraten werden in Westeuropa die Tendenz zur Schrumpfung
und Alterung der Bevölkerungen in einem spürbaren Ausmaß
fortsetzen. Dieser Prozeß ist auf absehbare Zeit nicht umkehrbar.
Auch eine Zunahme der Beschäftigungsquote würde die zu erwartende
demographische Lücke nicht ausreichend abfedern können. Der
Rückgang der jungen Menschen würde in der Konsequenz die Rentensysteme
belasten und Europas Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen.
Aus der wirtschaftlichen Perspektive entsprechen die tatsächlich
in die EU wandernden Menschen nicht dem Bedarf und den Möglichkeiten
in den Aufnahmeländern. Es spricht vor diesem Hintergrund schon aus
wirtschaftlichem Eigeninteresse viel dafür, an die Stelle bloßer
Abwehrreaktionen mittelfristig eine Politik zu setzen, die Einwanderung
nach rationalen Kriterien vergibt. Ohne ausreichende Vorbereitungszeit
und eine entsprechende, flankierende Integrationspolitik wird aber die
hohe Hürde der gesellschaftlichen Akzeptanz - wichtigster Prüfstein
für ein gelingendes Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderern
- nicht genommen werden können.
Es scheint so, daß die Politik manchmal Ballast abwerfen muß,
um ihre Manövrierfähigkeit zu verbessern. Trotz der jahrelangen
Debatte über die Perspektiven der Migrationspolitik, trotz mehrerer
Millionen Zuwanderer, die in den 90er Jahren in die EU gekommen sind,
und trotz der offensichtlichen Tatsache, daß Westeuropa durch seine
Stellung als Stabilitätsgarant und Wohlstandsinsel Ziel von Zuwanderung
ist und auch bleiben wird, lehnen die europäischen Staaten überwiegend
eine aktive - das heißt: begrenzende und steuernde - Einwanderungspolitik
ab. Da Möglichkeiten für ein aktives Migrationsmanagement nicht
offen diskutiert werden, fehlen in den meisten EU-Staaten entsprechende
Steuerungsinstrumente sowie klare Aufnahmekriterien.
Einwanderung endet darüber hinaus nicht an den Grenzen. Das Festhalten
an der längst widerlegten Vorstellung der siebziger Jahre, daß
Zuwanderer sich nur vorübergehend in ihren Zielländern aufhalten,
geht in der Konsequenz einher mit nur unzureichenden Versuchen, die neuen
Bürger in die Gesellschaften der Aufnahmeländer zu integrieren.
Das Fehlen einer schlüssigen Integrationspolitik erschwert den Eingliederung
der Zuwanderer in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt. Dagegen würde
eine Politik, die das Faktum der dauerhaften Einwanderung als Tatsache
und Ausgangspunkt anerkennt, bei der Ausarbeitung der notwendigen flankierenden
Maßnahmen neue Handlungsspielräume erschließen. Einwanderung
und Integration bilden dabei eine ebenso sinnvolle wie notwendige Einheit:
Während die Einwanderung begrenzt wird, muß jeder Migrant in
die Gesellschaft des Aufnahmelandes integriert werden.
Zwar haben die neuen Mitbürger dabei einen erheblichen Anteil der
Integrationsleistung selbst zu erbringen. Aber durch eine größere
Offenheit, Integrationsangebote, durch stimmige Regelungen sowie durch
die Gewährung von Staatsbürgerrechten können Spielregeln
des Zusammenlebens verbessert werden. Praktische Beispiele zeigen, daß
transparente Regelungen dabei nicht nur die Akzeptanz für Ausländer
verbessern. So sind nicht wenige Einwanderer in die Vereinigten Staaten
stolz darauf gewesen, Amerikaner werden zu können, und haben von
sich aus eine entsprechende Assimilation angestrebt. In Schweden - das
für seine fortschrittliche Einwanderungs- und Integrationspolitik
mit dem Carl Bertelsmann-Preis ausgezeichnet wurde - zeigt sich, daß
mit den richtigen politischen Rahmenbedingungen der Prozeß der Integration
wirkungsvoll unterstützt werden kann. Dort wird jedem Einwanderer
nach drei Jahren das kommunale Wahlrecht eingeräumt - und nach fünf
Jahren ein Recht auf Einbürgerung. Sprachkurse und andere Maßnahmen
erleichtern diesen für das gemeinsame Zusammenleben so wichtigen
Prozeß.
Gegner einer kontrollierten Einwanderungspolitik heben immer wieder hervor,
daß die faktische Zuwanderung nach Europa gegenwärtig keine
großen Spielräume für den Erlaß von Quoten bietet.
In der Tat kann der Zweck eines europäischen Einwanderungskonzeptes
heute kaum darin liegen, zusätzliche Möglichkeiten zur Immigration
zu bieten. Aufgabe einer solchen Politik ist es im Gegenteil, denjenigen
Teil der Zuwanderung, der über die unantastbaren humanitären
Verpflichtungen hinausgeht, nach gesellschaftlich abgestimmten politischen
Vorgaben zu steuern und zu begrenzen, um die Anzahl der Einwanderer den
Möglichkeiten und Bedürfnissen der Gesellschaften in den Aufnahmeländern
anzupassen.
Nicht ohne Grund ist Einwanderungspolitik bereits nach den heutigen EU-Vertragsbestimmungen
eine "Angelegenheit von gemeinsamem Interesse". Allerdings haben
nationale Vorbehalte gegen die Abgabe von Kompetenzen in diesem Kernbereich
nationaler Souveränität als auch die mangelnde Bereitschaft
zur aktiven Einwanderungspolitik entsprechende Fortschritte verhindert.
Insofern hat es nicht verwundert, daß ein entscheidendes Defizit
des wohl Anfang des kommenden Jahres in Kraft tretenden Vertrages von
Amsterdam - die Beibehaltung der Einstimmigkeit trotz vorgesehener Vergemeinschaftung
der Einwanderungspolitik - sogar als Verhandlungserfolg hervorgehoben
wurde. Immerhin sieht der Vertrag die Möglichkeit vor, mit der Zustimmung
aller Mitgliedstaaten zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen überzugehen.
Den politischen Willen und eine entsprechende Einsicht vorausgesetzt,
verfügen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten nach
der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags aber über die entscheidenden
Instrumente, um schrittweise eine innovative Einwanderungspolitik zu entwickeln.
In der nach wie vor mit vielen Emotionen geführten politischen Auseinandersetzung
ist zu beobachten, daß jenseits der Reizworte die inhaltlichen Differenzen
nicht unüberbrückbar erscheinen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit
in Europa steht momentan die Begrenzung der faktischen Einwanderung in
jedem EU-Staat im Vordergrund. Nichts spricht dagegen, zunächst neben
der Bekämpfung illegaler Einwanderung den Schwerpunkt einer integrierten
Einwanderungspolitik auf die Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Integrationsmöglichkeiten für die bereits anwesenden
Einwanderer zu legen. Auf der europäischen Ebene liegen die Prioritäten
zunächst auf der Harmonisierung des Asyl- und des Flüchtlingsrechts
sowie der Integration des sogenannten Schengen-Besitzstandes in den EG-Vertrag,
wie im Vertrag von Amsterdam vorgesehen.
In einer zweiten Phase wären die nationalen Instrumentarien Schritt
für Schritt zu ergänzen, um eine bedarfsgerechte und kontrollierte
Einwanderung zu ermöglichen. Mit steigendem Einwanderungsbedarf können
dann Quotenregelungen gezielt dazu beitragen, daß die Möglichkeiten
des Arbeitsmarktes berücksichtigt werden und es zu keinen Überforderungssyndromen
kommt. Auch in dieser Phase wird die Zahl der zuwanderungswilligen Menschen
die Zahl der Einwanderungsmöglichkeiten überschreiten. Aufgabe
der Einwanderungspolitik wird es zu jeder Zeit sein, das Ausmaß
der Einwanderung handhabbar zu gestalten und zu begrenzen, um diejenigen
Menschen, die legal in die EU-Staaten kommen, integrieren zu können.
Der Weg zu einer echten europäischen Einwanderungspolitik führt
schließlich über die Koordinierung der nationalen Vorschriften.
Im Europa ohne Binnengrenzen kann eine europäische Einwanderungsbehörde
in Absprache mit den Mitgliedstaaten am besten das Management zwischen
Einwanderungswünschen und Einwanderungsbedarf übernehmen. Flexible
Quoten und Ausgleichsmechanismen verbessern die Möglichkeiten, auf
längerfristige Bevölkerungsentwicklungen sowie auf plötzliche
Fluchtwellen zu reagieren.
Weder das Ausmaß des künftigen Einwanderungsdrucks noch der
Zuwanderungsbe-darf in den Staaten der Europäischen Union können
heute präzise beziffert werden. Es entspricht dennoch der politischen
Rationalität, rechtzeitig und gemeinsam auf die absehbare Tatsache
künftiger Immigration vorbereitet zu sein. Es versteht sich von selbst,
daß eine sinnvolle Einwanderungspolitik darüber hinaus nur
funktionieren kann, wenn sie in eine Außenpolitik eingebettet wird,
die die Ursachen des Auswanderungsdrucks zu mindern versucht. Als Weltmacht
im Werden muß die Europäische Union die Regionen in ihrer Nachbarschaft
aktiv bei deren Stabilisierungsbemühungen unterstützen und mehr
globale Verantwortung übernehmen. Gemessen an derartigen Herausforderungen
erscheint dagegen die Frage, ob die EU-Staaten als Einwanderungsländer
zu bezeichnen sind oder nicht, nur noch von nachrangiger Bedeutung. Der
semantische Streit lenkt eher von der politischen Substanz ab, statt sie
transparent zu machen.
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