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Neue
Zürcher Zeitung vom 27. Mai 1998
Von innen bedrohte Souveränität der Ukraine
Eine amerikanisch-europäische Strategietagung in Washington
Experten aus den USA und Europa haben sich an einer Konferenz in Washington
besorgt über die Krise der Ukraine geäussert. Sie sehen die
Souveränität der Ukraine akut von innen bedroht, vor allem durch
die sich hinziehende Wirtschaftskrise. Die USA und die EU benötigen
eine gemeinsame Strategie, um Kiew zu helfen. Doch während Washington
Szenarien der Krisenvermeidung entwirft und die Ukraine nach wie vor als
geopolitisches Gegengewicht zu Russland ansieht, scheint die EU Kiew als
lästig zu empfinden und die Risiken einer fragilen Ukraine zu unterschätzen.
Die Lage der Ukraine hat sich im vergangenen halben Jahr drastisch verschlechtert.
Eine sich anbahnende Finanzkrise der Ukraine, die undurchsichtigen Folgen
des Wahlsiegs der Postkommunisten und die Ermordung des Paten der ukrainischen
Währungsreform und pragmatischen Spitzenpolitikers Wadim Hetman haben
Experten in den USA und Europa alarmiert. Die Ukraine droht ihrer Ansicht
nach zu einem Krisenherd in Osteuropa zu werden und als künftiger
direkter Nachbar der EU den Westen vor neue Probleme zu stellen. Auf einer
ersten amerikanisch-europäischen Strategietagung in Washington kamen
jedoch Zweifel auf, ob die EU das Risiko einer fragilen Ukraine gegenwärtig
voll erfasst. In der zuständigen Brüsseler EU-Generaldirektion
gibt es noch keine Expertengruppe (Task force) für die Ukraine. Dagegen
beschäftigen sich in Washington gleich mehrere Vordenker (Think tanks)
mit Szenarien, welchen Verlauf die Krise Kiews nehmen könnte und
wie darauf zu reagieren wäre.
Halbherziges Engagement der EU
Eine Vereinbarung der USA und der EU, in Fragen der Ukraine zu kooperieren,
steht bisher nur auf dem Papier. Notwendig wäre die Zusammenarbeit
angesichts vieler sich überschneidender Hilfsmassnahmen der millionenschweren
Programme TACIS (EU) und USAID (USA), die manchmal eher der Arbeitsbeschaffung
westlicher Berater denn der Entwicklungshilfe für die Ukraine dienen.
Sowohl in den USA als auch in der EU wird der Effizienznachweis solcher
Projekte immer dringlicher wegen Budgetsparmassnahmen.Carlos Pascual vom
Nationalen Sicherheitsrat der USA verwies auf der Tagung auf einen Aktionsplan,
den Washington jüngst Brüssel vorgelegt habe, der dort aber
abgelehnt worden sei. Ein deutscher Europakenner vermutet als Ursache
der Ablehnung, die EU habe Angst, in ihrer schwer koordinierbaren Aussenpolitik
von den USA überrumpelt zu werden. Die EU versteckt sich in ihrer
Ukraine-Politik gerne hinter dem seit dem Frühjahr geltenden Kooperations-
und Partnerschaftsvertrag. Doch statt diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen,
attackierte Brüssel Kiew bereits wenige Wochen nach dessen Inkrafttreten
wegen angeblicher Verstösse dagegen im Falle einer Milliardeninvestition
des südkoreanischen Multikonzerns Daewoo, der in der Ukraine Autos
bauen wird. Die Ukraine hatte - gemäss der Empfehlung europäischer
Experten - diese Daewoo-Investition mit Fördermassnahmen flankiert,
die jedem anderen Investor auch zugute kommen würden und zuvor in
Polen und Tschechien in ähnlicher Weise gehandhabt worden waren.
Im Falle der Ukraine sieht Brüssel darin eine Bevorzugung und erwägt
Gegensanktionen.
Diese Haltung stösst in Kiew auf Unverständnis. Quasi im Gegenzug
reagierte die Regierung mit der Ankündigung, den Reaktorblock 3 im
Atomkraftwerk Tschernobyl wieder in Betrieb zu nehmen (gegenwärtig
sind dort alle Blöcke abgeschaltet). Für Brüssel wäre
dies ein Schreckgespenst. Kiew legte damit den Finger auf einen weiteren
wunden Punkt im Verhältnis zur EU, die sich gegen eine Kompensation
der Tschernobyl- Abschaltung sträubt, die Staatspräsident Kutschma
vor dem Jahre 2000 versprochen - und de facto bereits realisiert - hat.
Die EU und die Osteuropabank (EBRD) konnten sich dagegen bis heute nicht
dazu durchringen, Kiew Millionenkredite zum Ausbau zweier Atomkraftwerke
(Riwne und Kmelnyzky) zu genehmigen. Dies aber bringt den Zeitplan der
Tschernobyl-Abschaltung aus den Fugen und strapaziert den ukrainisch-europäischen
Dialog.
So ist es bezeichnend, dass nicht Brüssel Gastgeber der Strategietagung
war, sondern das Amerikanische Institut für zeitgeschichtliche deutsche
Studien (AICGS) in Zusammenarbeit mit dem Münchner Centrum für
angewandte Politikforschung (CAP) von Werner Weidenfeld, einem der Autoren
deutscher Europapolitik.
Oleksandr Pawljuk vom Kiewer Institut für Ost-West-Studien hält
die Haltung der EU für einen Schlag gegen die dünne Schicht
der Reformer in Kiew, so gegen den neuen Aussenminister Boris Tarasjuk,
vormals Botschafter der Ukraine in Brüssel. Tarasjuk, der auf seiner
jüngsten Reise nach Ungarn die Nato lobte, der EU aber Konzeptionslosigkeit
vorwarf, werde es ohne EU-Perspektive äusserst schwerfallen, Kiew
auf Westkurs zu halten. Westliche Experten, wie Alexander Rahr von der
Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik oder John Tedstrom
von der Rand Corporation sehen die Ukraine vor allem von innen bedroht:
durch Korruption und Überregulierung, verschleppte Privatisierung
und niedrige Direktinvestitionen sowie - ganz akut - durch die galoppierende
Neuverschuldung. Eine andere Bedrohung halten sie dagegen für wenig
relevant: Russland sei gegenwärtig zu schwach und nicht daran interessiert,
sich die Ukraine einzuverleiben - zumindest solange in Moskau keine Grossnationalisten
herrschten. Auch tendiere Moskau gegenüber Kiew weg von staatlich-politischer
Hegemonie hin zu privat-wirtschaftlicher Dominanz.
Brzezinskis harte Frage
Zbigniew Brzezinski, ehemaliger amerikanischer Sicherheitsberater und
heute Sprachrohr eines proukrainischen Flügels in der US-Politik,
spitzt die Krisenfrage zu: Falls es in Kiew zur Reformblockade durch das
Parlament käme oder die Rada gar ein Referendum für eine Union
mit Russland beschlösse - würde der Westen dann auf Kutschmas
Seite stehen, wenn dieser das Parlament auflöste und eine - notfalls
undemokratische - Präsidialregierung einführte, um «Unabhängigkeit
und Reformen» zu sichern? Brzezinski plädiert für ein
Ja. Dem Westen müsse an einer unabhängigen Ukraine gelegen sein,
weil Russland ohne die Ukraine seine Stellung als imperialistische Weltmacht
nicht wiedererlangen könne.
Brzezinski hofft, dass Kutschma schnellstens einen «jungen Reformer»
zum Premier ernennt, der im Parlament ein Reformprogramm durchsetzt -
gegen Korruption und administrative Überregulierung, für einen
Boom moderner Unternehmen und des Arbeitsmarkts. In Kiew gilt diese Hoffnung
als gering, da Kutschma vor der Präsidentschaftswahl 1999 aus Gründen
der Vertrautheit an Premier Pustowojtenko festhalten wolle. Ohne neue
Reformimpulse aber befürchtet Brzezinski, dass bei fortgesetzter
Wirtschaftskrise die gesellschaftliche Zersetzung in der Ukraine zum nationalen
Zerfall umschlagen könnte - kurzum: dass die Mehrheit der Ukrainer
für eine Union mit Russland stimmen könnte. Über derartige
Szenarien aber, so der Altmeister der europäischen Osteuropapolitik,
scheine man sich im Westen mehr Sorgen zu machen als in Kiew.
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