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Die Welt vom 14.
Mai 1998
Eine Lerngemeinschaft über den Atlantik
Von Werner Weidenfeld
Fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Zeit gekommen, die transatlantischen
Beziehungen mit der gleichen mutigen Kreativität, der gleichen strategischen
Genialität wie vor 50 Jahren auf eine neue Stufe der Verbindlichkeit
zu stellen. Die Europäische Kommission hat dafür mit ihrer Initiative
eines "Neuen Transatlantischen Marktes" ausreichend Anknüpfungspunkte
bereitgestellt. Das ehrgeizige Maßnahmenpaket enthält einen
Mechanismus zur Konfliktregelung bei Handelsdisputen, die Zielvorgabe
einer Eliminierung aller industrieller Zölle bis zum Jahre 2010,
eine Freihandelszone für Dienstleistungen, eine weitere Liberalisierung
von Investitionen, des öffentlichen Beschaffungswesens und geistiger
Eigentumsrechte, die gegenseitige Anerkennung technischer Richtlinien
sowie eine verstärkte Zusammenarbeit u.a. in den Bereichen elektronischer
Handel, Datensicherheit und Wettbewerbsrecht. Der Grad der bestehenden
transatlantischen Verflechtung ist nirgendwo sichtbarer als bei den Wirtschaftsbeziehungen.
Ohne neue Strukturen der politischen Zusammenarbeit würde aber auch
der bedeutende Verbindlichkeitssprung eines "Neuen Transatlantischen
Marktes" unvollständig bleiben. Es geht darum, den politischen
Rahmen für ein noch dichteres Beziehungsgeflecht so zu gestalten,
daß er zum Katalysator und nicht zum Hemmschuh von Integrationsfortschritten
wird. Internationales Krisenmanagement und globale Herausforderungen sind
heute die Fragen, in denen ein vorrangiges Interesse der Partner an gemeinsamem
Handeln besteht. Bei der Politik gegenüber "Rogue States"
wie Irak, Iran, Libyen oder im Bereich internationaler Umweltvereinbarungen
wird die Notwendigkeit einer engeren Abstimmung besonders deutlich. Die
erforderliche Strukturierung könnte durch die Gründung einer
Europäisch-Amerikanischen Politischen Zusammenarbeit (EAPZ) geleistet
werden. Diese EAPZ wäre das zeitgemäße Forum zur Bewältigung
der Fragen, die heute objektiv von der Weltgemeinschaft an die transatlantischen
Partner herangetragen werden, für die sie aber subjektiv bislang
noch keine Organisationsform gefunden haben.
Die politischen Maßnahmen eines "Neuen Transatlantischen Marktes"
und einer EAPZ wären schon ein großer, ja historischer Integrationsfortschritt
in den europäisch-amerikansichen Beziehungen. Ihr volles Potential
werden sie jedoch erst durch eine Absicherung auf gesellschaftlicher Ebene
entfalten können. Nachdem der Kitt der gemeinsamen Bedrohung durch
die Sowjetunion weggebrochen ist, bieten gerade die zwischengesellschaftlichen
Beziehungen zwischen Europa und Amerika die Möglichkeit, die Integration
des atlantischen Raums auf eine langfristig stabile Grundlage zu stellen.
Die inneren Herausforderungen der europäischen und amerikanischen
Gesellschaften haben in den letzten Jahren die gemeinsame Agenda immer
stärker bestimmt. Offensichtlich wird der gemeinsame Handlungsbedarf
bei grenzüberschreitenden Problemen wie Kriminalität und Migration.
Aber auch bei der Reform sozialer Sicherungssysteme oder des Bildungswesens
stehen Europa und Amerika vor gemeinsamen Herausforderungen. Da beide
Seiten zugleich über ganz unterschiedliche Herangehensweise zur Problemlösung
verfügen, sind die idealen Voraussetzungen für die Begründung
einer transatlantischen Lerngemeinschaft gegeben. Nur durch einen systematischem
Erfahrungsaustausch können die bestehenden Innovationspotentiale
optimal genutzt werden. Die bislang eher zufällig verlaufenen Kontakten
auf gesellschaftlicher Ebene würden mit der Transatlantischen Lerngemeinschaft
zum ersten Mal einen strukturierten Rahmen erhalten. Erst die Trias eines
"Neuen Transatlantischen Marktes", einer Europäisch-Amerikanischen
Politischen Zusammenarbeit und einer Transatlantischen Lerngemeinschaft
wird den europäisch-amerikanischen Beziehungen die Substanz und Vitalität
geben, die sie zur Bewältigung der Herausforderungen im 21. Jahrhundert
dringend brauchen werden.
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